Kapitel 3
Der Doc hasste es, wenn sie beide vollkommen planlos draufloszogen. Sie mussten sich absprechen, aufeinander abgestimmt sein. Sie hatten schon so viel verrücktes Zeug erlebt und überlebt, aber irgendwann würde sie das Glück verlassen.
Manchmal wünschte er sich, er hätte sie einfach liegengelassen. Aber er musste sie ja mitnehmen, ihre Wunden versorgen und sie aufpäppeln. Dabei hatte er nicht geglaubt, dass sie es schaffen würde. Diese Mistkerle hatten ihr ein Auge genommen, verdammt. Und auf ihrem Körper waren Linien gemalt, an denen sie entlang schneiden wollten. Wie bei einem Schwein, dem man die besten Stücke entfernte.
Er hatte nicht alle Menschenfresser erwischt. Ein paar waren entkommen, und er wäre ihnen nur zu gerne hinterhergeeilt, um auch sie zu erledigen, aber Natalie hatte so stark geblutet. Die Chancen, sie zu retten, waren gering gewesen, denn er besaß zwar Erfahrung, aber nicht das nötige Material.
Wenn er sie jetzt sah, konnte er immer noch nicht fassen, dass es dieselbe Person war, die er in dem Haus vorgefunden hatte.
Als er über einen Kofferraum hinwegschaute und beobachtete, wie Natalie sich den beiden Männern näherte, kam es ihm wie ein kleines Wunder vor, dass sie noch lebte.
Sie besaß einen starken Überlebenswillen und geringes Schmerzempfinden. Seitdem sie gemeinsam unterwegs waren, hatte er sie schon so oft zusammenflicken müssen.
Er hielt nach lebenden Toten Ausschau, während er sich ausmalte, wie sie heute Abend zusammen an einem Lagerfeuer sitzen und er wieder einmal sagen würde, dass sie sich zurückhalten müsste. Aber das konnte sie wohl nicht. Sie hatte in der Bundeswehr gedient und war von Anfang an dabei gewesen, als die Toten auferstanden. Genau wie er musste sie schreckliche Dinge gesehen haben. Doch darüber sprachen sie nie. Es würde nur Erinnerungen wecken, die sie erfolgreich unterdrückten. Sie wussten, wie sie sich in Gegenwart des anderen zu verhalten hatten. Oft sogar ohne Worte.
Der Name des Ortes verriet, dass es sich um einen Kurort handelte. Besonders groß konnte er also nicht sein. Die Großstädte waren von Untoten überrannt worden. Die Bundeswehr war chancenlos gewesen und hatte viele kleinere Orte vollkommen im Stich gelassen. Der Doc konnte sich gut vorstellen, dass Bad Oeynhausen nie Hilfe bekommen hatte. Während ihrer Reise waren der Doc und Natalie durch viele solche Städte gefahren. Während in den Großstädten immer noch herrenlose Panzer und andere Fahrzeuge der Bundeswehr an die vergeblichen Kämpfe erinnerten, suchte man solche Spuren in Kleinstädten vergeblich.
Er sah Natalie den Männern folgen und blieb an ihr dran. Er könnte sie auch zurücklassen und allein weitermachen, wie zuvor.
Aber er mochte sie. Es gab keine enge Beziehung zwischen ihnen, nur reine Freundschaft. Es fühlte sich gut an, nicht mehr allein zu sein oder befürchten zu müssen, im Schlaf die Kehle aufgeschlitzt zu bekommen und ausgeraubt zu werden. Und eine andere Stimme zu hören tat immer gut. Jemanden zu haben, mit dem man reden konnte. Sie mochten nicht immer einer Meinung sein und stritten auch oft miteinander, aber genauso oft brachten sie sich gegenseitig zum Lachen.
Er behielt sie weiterhin im Blick und richtete seine Augen dann auf ihr ungefähres Ziel, sah eine schwarze, dünne Rauchsäule in den Himmel steigen. Woher sie kam, konnte er nicht sagen. Ein großes Gebäude versperrte ihm die Sicht. An den Wänden hingen große Plakate von Filmen, die hier vermutlich noch nicht einmal angelaufen waren, bevor die Toten auferstanden. Doc schloss daraus, dass es sich um ein Kino handelte. Was folgte, waren eine Tankstelle und ein Burger King. Irgendwo dahinter befand sich das Feuer. Es konnte nur ein kleines Lagerfeuer sein.
Vermutlich machten sie hier Rast, oder ...
Der Doc zuckte zusammen, als die Schreie begannen. Sofort versuchte er, Natalie wiederzufinden, sah sie zwischen den Wracks entlang huschen und musste sich zusammenreißen, nicht nach ihr zu rufen. Das hätte die Männer auf sie aufmerksam gemacht.
Dennoch drehte sich der Kerl mit der Wollmütze um, als hätte er etwas gehört.
Trotz des Mantels, den er trug, bildete sich eine Gänsehaut auf den Armen des Docs. Der Kerl sah zwar anders aus als bei ihrer letzten Begegnung, aber er erkannte ihn trotzdem wieder. Für den Bruchteil einer Sekunde, der sich für den Doc viel länger anfühlte, sah er die Szene vor sich. Wie der Kerl vor dem Licht zurückwich, als könnte es ihn mehr verletzen als die Revolver, die der Doc auf ihn richtete. Er hatte ihn am Arm getroffen, doch da der Mistkerl entkommen war, konnte es nur ein Streifschuss gewesen sein.
Das ist kein Lagerfeuer, sondern eine Grillparty, dachte der Doc, als sich der Menschenfresser wieder von ihm abwandte.
Kapitel 4
Ihn wiederzusehen fühlte sich anders an als erwartet. In ihrer Vorstellung schoss Natalie ihm wortlos ins Gesicht, während er um sein Leben bettelte. Doch jetzt, als er nur ein paar Meter von ihr entfernt die Straße entlangging, ließ sie sein Anblick fast kalt. Es enttäuschte sie irgendwie, dass sie keine Wut empfand. Dass der aufgestaute Hass nicht überkochte und ihr die Kraft gab, ihn auf der Stelle umzubringen.
Dennoch löste es etwas in ihr aus, denn die Schreie von weiter rechts drangen erst an ihr Ohr, als er seinen Freund mit dem Ellbogen anstieß und sagte: »Die Penner haben schon ohne uns angefangen.«
»Hast du was anderes erwartet?«, fragte der Mann mit dem Pferdeschwanz.
»Um ehrlich zu sein, nein.«
Sie verschwanden kurz hinter der Preistafel der Tankstelle und Natalie nutzte die Chance, ihnen zu folgen. Die Schreie hörten ebenso abrupt auf, wie sie begonnen hatten, doch als Natalie sich nahe der Tankstelle befand, konnte sie auf einen dahinterliegenden Parkplatz sehen. Er gehörte zu einem Einkaufszentrum. Mehrere Geschäftsnamen standen draußen an den Wänden. Kleidungsläden, ein Elektronikfachhandel, ein Supermarkt und mehr. Für einen Moment versuchte Natalie sich vorzustellen, wie es hier früher ausgesehen hatte. Als die Menschen noch herkamen, um einzukaufen und den Tag zu genießen.
Der Verkehr war sicher immer sehr dicht gewesen, da er zu beiden Seiten auf die inzwischen vollkommen verstopfte Autobahn führte.
Sie schlich weiter, ließ ihre Deckung hinter sich, als die beiden Männer auf dem Parkplatz nach rechts abbogen und erneut aus ihrem Blickfeld verschwanden. Vermutlich war die Rauchsäule ihr Ziel.
Natalie sah noch einmal zum Wagen, in dem sie Doc Frankenstein zurückgelassen hatte, konnte ihn aber immer noch nicht sehen. Sicher versteckte er sich wie sie zwischen den Wracks. Vielleicht beobachtete er sie gerade und ärgerte sich über ihren Alleingang. Aber dies war einfacher, als dem verschlafenen Kerl erklären zu müssen, was sie vorhatte.
Sie stand auf, um den beiden Männern zu folgen, als sie schlurfende Schritte hinter sich hörte. Ihr fiel die Bewegung zwischen den Wracks ein und es ärgerte sie, dass sie diese vergessen hatte. Als Natalie sich umdrehte, war der Stinker, wie sie die Toten nannte, nur noch wenige Schritte entfernt. Er bestand nur aus Haut und Knochen, doch sein Bauch war durch Verwesungsgase regelrecht aufgebläht. Die Toten konnten das Fleisch, das sie aßen, nicht verdauen oder ausscheiden. Sie fraßen, bis sie platzten, und selbst dann noch weiter. Sein rechter Arm fehlte, der linke war nach ihr ausgestreckt. Und das, obwohl sein Unterkiefer nur noch an verwesenden Sehnen baumelte und er längst nicht mehr fähig war, zuzubeißen. Ihn zu erschießen, hätte die Männer auf sie aufmerksam werden lassen, also holte sie ein Jagdmesser aus ihrem Gürtel, schlug den Arm des Toten beiseite und rammte ihm die Klinge in die Schläfe. Sie rutschte von allein wieder heraus, als der Stinker zu Boden sank. Inzwischen hatte sie so viele dieser Monster ausgelöscht, dass es eine fließende Bewegung geworden war.
Sofort drehte Natalie sich wieder um, sah zum Parkplatz und machte sich auf den Weg. Der Stinker hatte etwas in ihr ausgelöst. Die seit langer Zeit in ihr brodelnde Wut wollte endlich raus.
Kapitel 5
Früher hatte Doc Frankenstein als Unfallchirurg in Stuttgart gearbeitet und auf den Namen Lars gehört. Seine Erfahrungen mit Verletzungen retteten Natalie das Leben, und inzwischen hatte sie ihre Schuld mehrmals ausgleichen können. Doc mochte ein guter Chirurg