Das dritte Kapitel untersucht die gesellschaftliche Entwicklung, die derzeit unter dem Containerbegriff „Digitalisierung“ zu beobachten ist, nur an einem, aber vermutlich repräsentativen Beispiel. Zwar ist die Ursache für dieses Beispiel historisch beispiellos und liegt in der Corona-Krise des Jahres 2020. Etliche Staaten haben Ausgehsperren verhängt, um die Ausbreitung des Corona-Virus Covid 19 einzuschränken. Das führte auch zum Verbot, sich zu Gottesdiensten zu versammeln. In dieser Situation haben etliche Religionsgemeinschaften das Internet für sich entdeckt, um ihre Angebote in den virtuellen Raum zu verlegen. Die Corona-Krise hat jedoch die Digitalisierung von Sozialformen nicht verursacht, sondern nur beschleunigt. Mit der Digitalisierung hat sich schon vorher ein sozialer Trend entwickelt, Inhalte zu formalisieren. Die naive Euphorie, mit der Kirchengemeinden und Kirchenleitungen virtuelle Gottesdienstangebote ins Internet stellen, macht diesen Trend nur besonders sichtbar. Denn sie belegt die Anfälligkeit für die Formalismuskrise im Denken von Organisationen.
Wenn dieses Büchlein die Aufmerksamkeit ein wenig dafür schärfen kann, was mit der Formalismuskrise verlorenzugehen droht und was deshalb zu verteidigen ist, wäre sein Ziel erreicht. Es gilt nämlich die menschliche Fähigkeit zu schützen, Sachverhalte zu verstehen, ihnen auf den realen Grund zu gehen, Ziele zu setzen, weil uns etwas trifft, was uns den Sinn offenbart, diese Ziele zu setzen; die menschliche Fähigkeit also, geistig zu sein und dem Geistigen zu begegnen.
1 Der Formalismus in der Theologie: Präzisierungen zu einem aktuellen Denktyp
1.1 Mit Denkformen Inhalten aus dem Weg gehen
Kein Zweifel, dass Denkformen Formen sind. Aber bestimmt damit die Form den Inhalt? Könnte es also sein, dass Inhalte nur in bestimmten Formen dargestellt werden können, ansonsten verlieren sie sich? Oder können bestimmte Inhalte überhaupt erst ihre eigene Form hervorbringen? Aber wenn es so wäre, wären sie dann nicht auch unmittelbar an die Form gebunden?
Anselm von Canterbury hat im 11. Jahrhundert den ontologischen Gottesbeweis formuliert. Er besteht darin, dass man Gottes Existenz aus dem Gedachtsein ableitet. Wer Gott denkt, muss ihn so denken, dass Gott nicht nur gedacht sein kann. Dieser originelle Gedanke wurde seitdem seiner Form nach immer wieder verwendet, auch um damit die Existenz von anderem zu beweisen. Der ontologische Beweis wurde zu einer Form, die andere Inhalte aufnehmen konnte. Sartre etwa hat mit diesem Verfahren die Existenz einer Außenwelt außerhalb der Ideen nachgewiesen. Auch dass es neben mir noch anderes Bewusstsein gibt, ließ sich für Sartre mit dieser Form beweisen.1 Doch dazu musste Anselm seinen Gottesbeweis zunächst einmal inhaltlich durchdrungen haben.
Vermutlich hat Anselm dazu auf andere Formen zurückgegriffen, etwa auf die Gebetsform, in der er seinen Beweis entfaltet. Doch soll das heißen, dass Inhalte letztlich nie ohne eine ihr vorausliegende Form entwickelt werden können? Das würde heißen, dass die Form des ontologischen Gottesbeweises im Grunde schon in der Gebetsform angelegt gewesen war. Wirklich Neues ist dann nicht zu erwarten, sondern nur die Entwicklung der Potenziale alter Formen. Umgekehrt heißt das, dass Neuheiten nur unabgeleitet auftreten können. Neuheit ist Schöpfung aus dem Nichts, oder sie ist keine Neuheit. Ihre Unableitbarkeit liegt nicht darin, dass sie sich nicht über vorhandene Formen stülpt, sondern dass sie nicht als Form auftritt.
Wer über das Verhältnis von Form und Inhalt nachdenkt, muss dazu bereits selbst Inhalte denken und sie in eine Form bringen. Dennoch denkt er über etwas nach, was nicht selbst Form oder Inhalt ist. Das Verhältnis zwischen Form und Inhalt liegt vielmehr zwischen beiden. Das ist einerseits so originell nicht: Der Gedanke über einen Dinosaurier ist nicht selbst ein Dinosaurier. Andererseits handelt es sich beim Nachdenken über Form und Inhalt ja um eine Selbstanwendung von Form und Inhalt. Irgendwie wird der Gedanke doch zum Dinosaurier, wenn Form und Inhalt Dinosaurier sind. Aber selbst dann ist ihr Verhältnis keiner. Oder in der Sache gesprochen: Zwar hat der Gedanke zum Verhältnis von Inhalt und Form selbst einen Inhalt und eine Form. Aber wenn das Verhältnis zwischen ihnen liegt, wird hier etwas gedacht, was selbst über Inhalt und Form liegt.
In der Logik versucht man solche paradoxen Gedanken so zu lösen, dass man sie auf verschiedene Stufen stellt: Inhalte über Inhalte sind dann Inhalte zweiter Ordnung. Es könnte aber auch sein, dass das Verhältnis zwischen Form und Inhalt nicht einmal Inhalt oder Form höherer Ordnung ist, sondern nichts von beidem, sondern Neuheit: Ein Verhältnis, das nicht fest besteht, sondern sich frei bildet. Ich möchte in diesem Kapitel zeigen, dass es sich so mit Form und Inhalt verhält.
Die Reflexion über Neuheiten gehört theologisch in die Lehre von der Schöpfung. Auf die Theologie selbst angewandt, ist Schöpfungslehre kein festes Fundament, weder für die Rede von Gott noch von der Welt. Theologische Rede ist daher selbst kreativ. Sie kann sich nicht auf feste Formen verlassen. Vielmehr müssen theologische Denkformen sich selbst übersteigen können. Und sie müssen ihre Inhalte in andere Formen bringen können.
In der gegenwärtigen Theologie hört man oft davon, dass sich Form und Inhalt zu entsprechen hätten. Bisweilen wird sogar von einer „Kongruenz von Form und Inhalt“ gesprochen. Dahinter liegt eine Vorentscheidung über eine andere Verhältnisbestimmung von Form und Inhalt, als sie mir vorschwebt. Diese Vorentscheidung besteht darin, die Verhältnisbestimmung als Dominanz fester Formen vorzunehmen. Ich spreche deshalb von einer Vor-Entscheidung, weil dieser Formalismus, wie ich diese Dominanz der Form in diesem Büchlein nenne, seine Selbstanwendung nicht überprüft hat. Er hat nicht geklärt, ob neue Denkformen auf alten Denkformen beruhen. Und er hat keine Antwort auf die Frage gegeben, ob das Verhältnis zwischen Form und Inhalt selbst eine Form ist.
Holt man diese Selbstaufklärung nach, ergibt sich eine andere Theologie, als sie von den gegenwärtigen Protagonisten des Formalismus vertreten wird. In diesem Kapitel werde ich theologische Konzepte eines sich revidierenden Formalismus vorstellen, der Neuheiten mitdenken kann. Damit wird der Formalismus zu einer typisch theologischen Denkfigur. Der gegenwärtige Formalismus mag sich zwar auf außertheologische Einsichten anderer Geisteswissenschaften berufen. Sobald er aber auf sich selbst angewendet wird, treten grundsätzliche Erwägungen auf, die eine schöpfungstheologische Dimension eröffnen.
Dazu möchte ich in diesem Kapitel die „Kongruenzthese“ zwischen Form und Inhalt in Frage stellen. Ich stelle also meine Einwände gegen die These vor, dass zwischen Form und Inhalt eine Kongruenz besteht. Die These kann trivialer gemeint sein als sie klingt. Sie kann meinen, dass die Form immer dem Inhalt entspricht, der ausgedrückt wird, dass es also nie formlose Inhalte gibt. Es kann aber auch im nicht-trivialen Sinn gemeint sein, dass ein Inhalt ein anderer wird, wenn er in einer „unpassenden“ Form auftritt. Tatsächlich scheint diese nicht-triviale These hinter den Bemühungen insbesondere der Praktischen Theologie zu stehen, die angemessenen Formen theologischer Inhalte zu finden.
Zunächst möchte ich die Grenzen des Formalismus aufzeigen. In einem nächsten Schritt rekonstruiere ich die schöpfungstheologischen Quellen des Formalismus, aus dem sich ein flexibleres Verhältnis von Form und Inhalt ergibt.
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