Homer und Vergil im Vergleich. Philipp Weiß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Philipp Weiß
Издательство: Bookwire
Серия: Classica Monacensia
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300137
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wird. Homer und Vergil sind am Ende dieses Prozesses eben nicht mehr ohne Weiteres miteinander vergleichbar, wie aus der etwas „schiefen“ Rangbestimmung bei Quintilian ersichtlich wird: Einerseits versucht er bzw. der zitierte Domitius Afer in inst. 10, 1, 86 eine traditionelle Rangfolge zu etablieren, andererseits gesteht er mit seiner Unterscheidung von ingenium und ars ein, dass die beiden Autoren von unterschiedlichen ästhetischen Prinzipien ausgehen und daher grundsätzlich nicht vergleichbar sind. Weist man gelungene imitatio als Element von ars aus, wie es Klassizisten wie Dionysios getan haben, so verliert der Plagiatsvorwurf seine Bedeutung. Die im Folgenden zu untersuchenden Texte stellen sich alle in unterschiedlicher Weise der Herausforderung, Homer und Vergil sowohl unter dem Gesichtspunkt ihrer relativen Hierarchisierung als auch ihrer künstlerischen Eigentümlichkeit zu bewerten. Am Beginn steht die nur mehr sekundär bezeugte Debatte über die vermeintlichen Homerplagiate Vergils.

      2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil

      2.1 Die obtrectatores Vergilii in der Nachfolge der Homerkritiker (VSD 43–46)

      Über die Anfänge der philologischen Beschäftigung mit Vergil sind wir durch ein knappes Résumé unterrichtet, das in der sogenannten Vita Suetonii vulgo Donatiana (VSD) in den Schlussteil der eigentlich biographischen, dem auctor Vergilius gewidmeten Partie eingefügt ist. Diese Lebensbeschreibung wurde von Aelius Donatus im vierten Jhdt. n. Chr. an den Beginn seines sonst weitgehend verlorenen Vergilkommentars gestellt und ist in dieser Fassung überliefert.1 Doch reicht die Geschichte der VSD um etwa zweihundert Jahre zurück: Donatus verwendete für die Einleitung zu seinem Kommentar eine von Sueton am Beginn des 2. Jhdt. n. Chr. verfasste Vergilbiographie, die dieser in die Reihe der Dichterviten im 15. Buch (De poetis) seiner antiquarischen Sammelschrift Pratum aufgenommen hatte.2 Wie Sueton auch in seinen Kaiserbiographien nach der Schilderung der Todesumstände in knappen Zügen die Einschätzung des Toten bei Mit- und Nachwelt umreißt, so folgt auch in der VSD auf die Nachricht vom Ableben Vergils in Brundisium (§ 35) und seiner Bestattung in Neapel (§ 36)3 ein Katalog von Kritikern (obtrectatores), die Vergils Werk schon zu Lebzeiten und postum auf den Plan rief:4

      Obtrectatores Vergilio numquam defuerunt, nec mirum, nam nec Homero quidem. prolatis Bucolicis Numitorius quidam rescripsit Antibucolica, duas modo eclogas sed insulsissime παρῳδήσας, quarum prioris initium est: ‘Tityre, si toga calda tibi est, quo tegmine fagi?’ sequentis: ‘Dic mihi, Damoeta: cuium pecus, anne Latinum? | non. verum Aegonis nostri sic rure loquuntur.’ alius recitante eo ex Georgicis: ‘Nudus ara, sere nudus’, subiecit: ‘habebis frigore febrem’. est adversus Aeneida liber Car<v>ili Pictoris, titulo ‘Aeneidomastix’. M. Vip<s>anius a Maecenate eum suppositum appellabat novae cacozeliae repertorem, non tumidae nec exilis, sed ex communibus verbis atque ideo latentis. Herennius tantum vitia eius, Perellius Faustus furta contraxit. sed et Q. Octavi Aviti Ὁμοιότητων5 octo volumina, quos et unde versus transtulerit, continent. Asconius Pedianus libro, quem contra obtrectatores Vergilii scripsit, pauca admodum obiecta ei proponit, eaque circa historiam fere et quod pleraque ab Homero sumpsisset; sed hoc ipsum crimen sic defendere assuetum ait: ‘cur non illi quoque eadem furta temptarent? verum intellecturos facilius esse Herculi clavam quam Homero versum surripere’; et tamen destinasse secedere, ut omnia ad satietatem malevolorum decideret. (VSD §§ 43–46 = 174–199 Hardie = 38, 8–41, 6 Brugnoli-Stok)

      Von den genannten Werken ist keines erhalten, und man hat vermutet, dass auch Sueton die Titel nur aus zweiter Hand, nämlich aus der Einleitung zu der von ihm erwähnten Verteidigungsschrift des Asconius Pedianus contra obtrectatores Vergilii, kannte.6 Bei der Liste handelt es sich auch offenkundig nicht um den Versuch, eine vollständige Dokumentation der frühen Vergilkritik zu leisten. Stattdessen tritt, zieht man die klare Strukturierung des Passus in Betracht, der systematische Charakter der Zusammenstellung in den Vordergrund: Sueton – bzw. seiner Vorlage, Asconius Pedianus – ging es eher darum, für bestimmte Typen von Kritik repräsentative Beispiele aus der frühen Vergilliteratur zu nennen. Der literatur- und philologiegeschichtliche Bezugspunkt ist dabei im ersten Satz des Abschnitts benannt: Das rezeptionsgeschichtliche Faktum der Vergilkritik wird mit einem analogen Phänomen aus der Homerrezeption parallelisiert. Damit soll der kanonische Status beider Autoren freilich nicht in Frage gestellt werden. Im Gegenteil: Die Tatsache der Kritik wird von Sueton geradezu als Indiz für den Rang des Homernachfolgers Vergil ausgegeben: nec mirum, nam nec Homero quidem.

      Doch worin bestehen die behaupteten Bezüge zur Homerkritik im Einzelnen? Bei der zuerst genannten Gruppe, Parodien von Vergils Eklogen- und Lehrdichtung, ist die postulierte besondere Verbindung vielleicht auf den ersten Blick am wenigsten evident, weil man kreative Umbildungen in parodistischer Absicht auch zu zahlreichen anderen antiken Autoren kennt, es sich also nicht um eine Besonderheit der Homerrezeption handelt.7 Sueton nennt einen nicht weiter greifbaren Numitorius8, der gleich nach der Veröffentlichung der Bucolica zu Beginn der dreißiger Jahre9 eine zwei Eklogen umfassende Gegenschrift verfasste, der er den Titel Antibucolica gab.10 Das poetische Verfahren des Numitorius wird durch den Zusatz insulsissime παρῳδήσας in ästhetischer wie technischer Hinsicht qualifiziert.

      Um zu verstehen, warum Sueton diese Eklogen- und Georgica-Parodien (und keine anderen zeitgenössischen Vergilparodien) als Gegenstücke zu vergleichbaren Phänomenen gerade aus der Homerrezeption nennt, muss man die Besonderheiten des antiken Parodiebegriff in Rechnung stellen. In der lateinischen Literatur begegnet der Terminus zuerst bei Quintilian: In seiner Erörterung über den risus legt er dar, wie der Redner Verse verwenden soll, um komische Wirkungen zu erzielen. Neben ihrer Übernahme im unveränderten Wortlaut haben insbesondere das variierende Zitat und die freie Nachbildung von Versen komisches Potenzial.11 Dergleichen Anspielungen lassen den Redner als gewandten, schlagfertigen Mann von Welt erscheinen.12 Eine wichtige Voraussetzung für die angestrebte Wirkung liegt dabei darin, dass es sich um bekannte Verse handelt – die Identifikation des Vorbildverses seitens des Zuhörers muss also gewährleistet sein. An anderer Stelle öffnet Quintilian seinen Parodiebegriff auf den Bereich der Prosarede hin und schränkt ihn zugleich in historischer Perspektive ein, indem er eine ältere, strengere Definition ins Spiel bringt, nach der es sich ursprünglich bei der παρῳδή um ein canticum gehandelt habe, dessen Melodie nach der eines anderen canticum gestaltet war.13 Die Bezeichnung für diesen Vorgang, den man heute als Kontrafaktur bezeichnen würde, wäre demnach später auf die Imitation von Versen und Prosastücken übertragen worden. – Ein ähnliches Nebeneinander von engerem und weiterem Parodiebegriff begegnet in einem Abschnitt der Schrift Πρὸς Τιμαῖον des Periegeten Polemon14 aus dem 3./2. Jhdt. v. Chr. Hier wird einmal Hipponax (6. Jhdt. v. Chr.) als erster Dichter von Parodien genannt, während eine andere Stelle Hegemon von Thasos anführt, der als erster Parode in einem Agon gesiegt haben soll.15 Nach Aristoteles ist Hegemon sogar als Archeget der Gattung anzusprechen.16

      Die Begriffsgeschichte zeigt, dass sich der noch heute übliche weite Gebrauch des Terminus „Parodie“ erst in hellenistischer Zeit eingebürgert hatte.17 Davor bezeichnete der Begriff eine genau definierte Gattung epischer Dichtung, die sich zu den Vorträgen der Rhapsoden verhielt wie etwa die Paratragödie zur Tragödie.18 Institutionalisiert scheint das parodische Genos demnach hinsichtlich seines Gattungscharakters wie auch seines Rezeptionsrahmens mit Hegemon von Thasos zu sein, der im Athen des ausgehenden 5. Jhdt. mit seinen komischen Epennachbildungen bei Parodenagonen antrat. Aufgrund archäologischer Zeugnisse wissen wir, dass man das parodische Genre als eingeführte Dichtungsart auch unter die Disziplinen der musikalischen Agone aufnahm.19

      Wichtig in unserem Zusammenhang ist, dass noch Aristoteles nur an Epenparodien denkt, wenn er den Terminus παρῳδία verwendet.20 Der Parode Hegemon siegte, wie zufällig überliefert ist, in Athen mit einer epischen Γιγαντομαχία.21 Die bei Aristoteles erwähnte Δείλιας22 des Nikochares gibt sich unschwer als Homerparodie zu erkennen und wird demnach als παρῳδία im engeren Sinn des Wortes zu charakterisieren sein, als ein Werk also, das bei musikalischen Agonen zur Aufführung gebracht wurde. Später wurde der Begriff zwar auch für Kitharodenparodien verwendet23, doch war dies eine sekundäre Erscheinung: