Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Butzkamm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000942
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den lautübergreifenden Merkmalen von Melodie (Intonation/Tonhöhenverlauf) und Rhythmus.

      Nun kann man Hörtexte so manipulieren, daß der einer Sprache eigene charakteristische Rhythmus erhalten bleibt, aber nicht deren Intonation. So weiß man heute, daß Babys jedenfalls den Sprachrhythmus wieder erkennen, auch ohne die Intonation. Die Forschung geht weiter!2

      Fest steht: Neugeborene sind keine bloßen Reflexbündel.

       Sie unterscheiden die Stimme der Mutter von anderen Stimmen.

       Sie unterscheiden die Sprache der Mutter von anderen Sprachen.

       Sie unterscheiden Texte, die ihnen während der Schwangerschaft vorgelesen wurden, von anderen Texten.

      So wundert es nicht, dass schon die ersten Schreimuster Melodiebögen zeigen, die für die jeweiligen Muttersprachen typisch sind. Auf sie können die später folgenden Lautproduktionen aufbauen. Das Neugeborene hat das vorgeburtliche Erlebnis der Stimme, Sprache und Texte seiner Mutter aufbewahrt. Sein Gedächtnis hört mit. Dies bildet sich also schon vor der Geburt und bindet das Baby an die Mutter.

      Gedächtnis aber ist die Grundlage jeder Lernfähigkeit. Alles, was uns begegnet, beziehen wir auf Bekanntes, vergleichen wir mit Erinnertem. Jedes Lernen ist ein Hinzulernen. Auch das Lernen von Sprache baut auf frühen Voraussetzungen auf. Sprache wird nicht aufgepfropft, sobald die ersten Wörter erscheinen; sie wird schon vor der Geburt angebahnt, vom Vernehmen. Vom Vernehmen aber kommt uns die Vernunft, das Wort selbst und das, was es meint.

      Stimmungen: Das Ungeborene hört mit

      Das Innenohr, die Hörschnecke, ist mit dem Vestibularapparat und seinen Bogengängen verbunden, die uns Raumlageveränderungen rückmelden. Gleichzeitig sind diese Bogengänge sensible Rezeptoren für Rhythmik und Schwingungen, so daß wohl rhythmische Sprachelemente auch mit Hilfe dieses Vestibularapparates analysiert werden. Bei Menschen mit schwersten Behinderungen sind vestibuläre Anregungen (Schüttelbett, beschallte Wasserbetten) Entwicklungsanstöße dafür, den eigenen Körper in seiner Gesamtheit zu erfahren, sich selber aufzurichten (Auseinandersetzung mit der Schwerkraft), und ein Anreiz zum Hören und zur Sprachentwicklung.1

      So kann die Mutter durchaus schon einmal mit dem kleinen Wesen in ihrem Leib Zwiesprache halten oder ein Liedchen anstimmen. Die im Takt mitschwingenden Körperbewegungen gehören unmittelbar dazu und helfen, die Reizzufuhr zu gliedern.

      Zudem steht das Ungeborene physiologisch in engster Verbindung zur Mutter. Es spürt ihre Stimmungsschwankungen nicht nur über die StimmeStimme, sondern auch über die Veränderungen im Hormonspiegel. Die mütterliche Wärme hält auch das Kind warm. Ihr Blutzucker versorgt das Blut des Fötus. Was sie ißt, trinkt und einatmet, gelangt in irgendeiner Form auch in den Körper des Kindes. Wenn sie raucht und trinkt, gibt sie Nikotin und Alkohol auch an das Kind weiter. Müßten nicht die Mütter mit ihrer Leibesfrucht seelisch ebenso innig verschmolzen sein, wie sie es körperlich sind? Eine Mutter berichtet:

      Ein einziges Mal in zwanzig Jahren als Lehrerin habe ich mich zu einer Ohrfeige hinreißen lassen. Das Kind hatte mich dermaßen gereizt, und die Hand ist mir ausgerutscht. Danach war ich so erschrocken, daß mir das passieren konnte. Ich war damals schwanger. Noch am Nachmittag spürte ich, wie auch mein Kind erschrocken war. Nie zuvor und nie danach hat es so in meinem Leib rumort.

      Medizinisch gesprochen: Die Streßhormone, die ihr Körper ausgeschüttet hat, sind auch in den kindlichen Blutkreislauf gelangt.

      So spüren wir auch ohne gelehrte Untersuchungen, daß es für Mutter und Kind gleichermaßen sinnvoll ist, wenn sich die Mutter immer wieder Momente der Ruhe gönnt, in denen sie sich dem Kind nahe fühlt, in ihren Gedanken Raum schafft für das ungeborene Leben und ihre Gelöstheit und Heiterkeit an ihr Kind weitergeben kann. Momente, in denen sie sich vielleicht heller und heiterer Musik hingibt, etwa den Verspieltheiten und Arabesken der Violinkonzerte von MozartMozart, Wolfgang Amadeus. Momente, in denen sie ihr Kind teilhaben läßt am Wohlklang und Rhythmus ihrer Stimme und Sprache.

      Wer sich bewußt ist, daß sein Kind stets mithört, hat guten Grund, Streit zu vermeiden. Die Härte und der schneidende Tonfall kränken den Partner. Könnten sie nicht auch das Ungeborene krankmachen? Die Mutter kann nicht einfach die Tür zum Kinderzimmer zumachen und eine Meinungsverschiedenheit mit ihrem Partner ausfechten. Zwar ist man unter vier Augen, doch sechs Ohren sind dabei.

      Ursympathie und die Gunst der Stunde

      Das Menschenbaby kommt im Vergleich zu Säugetieren etwa 12 Monate zu früh auf die Welt. Da verwundert es nicht, daß es noch lange auf engste Verbindung mit der Mutter angewiesen ist. Was aber verwundert, ist, daß die Medizin – gewiß in den besten Absichten – so unbekümmert in die natürlichen Abläufe eingegriffen und diese Verbindung erst einmal unterbrochen hat. Denn es ist noch nicht lange her, da wurde in den Geburtskliniken der Mutter das Baby unmittelbar nach der Entbindung kurz gezeigt und dann für Stunden weggenommen.

      Aus der Verhaltensforschung wissen wir aber, daß in bestimmten Fällen die Zeit unmittelbar nach der Geburt ungeheuer wichtig ist, um das Junge auf die Mutter und die Mutter auf das Junge zu prägen. Das Mutterschaf leckt sein Junges unmittelbar nach der Geburt ab, nimmt dabei seinen Geruch auf und erkennt es daran wieder. Bei vielen Säugern hängt die mütterliche Brutpflege davon ab, ob sofort ein Kontakt mit den Jungen erfolgt. Wenn nicht, erwacht auch die Mutterliebe nicht; das Junge wird verstoßen oder getötet. Die Erforschung des PrägungsvorgangsPrägung verdanken wir Konrad LorenzLorenz, Konrad, der seine Entdeckung machte, als er ein frisch geschlüpftes Gänschen mal eben unter der Hausgans hervorholte, um es näher zu betrachten. Das Gössel gab Laut, er antwortete, und es war passiert: Für dieses Küken war er hinfort die Mutter, der es immer folgen würde, unwiderruflich.

      Solche Unumkehrbarkeit gibt es jedoch bei dem auf Freiheit angelegten Menschen nicht. Die Mutter-Kind-Beziehung entsteht nicht durch einen einmaligen Akt der Prägung, sondern in häufigen, intensiven und ungestörten Kontakten, frühen wie späteren. Richtig ist aber, daß die meisten Babys in der Stunde nach der Geburt wach und aufnahmebereit bleiben. Sollte das Zufall sein?

      Viele Mütter erleben ein überwältigendes Glücksgefühl, wenn sie ihr Baby gleich nach der Geburt in dessen erster Lebensstunde in ihren Armen halten, in seine offenen Augen schauen und mit ihm eine erste Zwiesprache führen können. Jede Bewegung des Babys, vor allem auch jeder Blick, ist für Mütter in dieser Stimmung ein mit innerem Jubel empfangenes Geschenk,

      schreibt Bernard HassensteinHassenstein, Bernard.1 Wahrscheinlich ist das Kontaktbedürfnis des Neugeborenen in seiner ersten Stunde ebenso stark. Schon hier beeinflussen sich Mutter und Kind wechselseitig und lernen voneinander, sind Lehrer und Schüler zugleich.

      Alle Sinne sind beteiligt, auch der – von den Menschen zumeist unterbewertete – GeruchssinnGeruchssinn, der sich ebenfalls schon im Mutterleib ausgeformt hat. Babys bevorzugen schon nach wenigen Tagen den Lappen, den die Mutter nach dem Stillen an ihre Brust legt, gegenüber anderen Stilleinlagen. Umgekehrt konnten auch Eltern das Hemdchen ihres Babys durch Riechen wiedererkennen. Und wenn die Mutter mit ihrem Säugling während der ersten halben Stunde seines Lebens zusammen war, konnte sie ihn sechs Stunden später am Geruch identifizieren.2 In den siebziger Jahren haben amerikanische Ärzte das Verhalten von Müttern untersucht, die mit ihrem Baby ausgiebigen Erstkontakt hatten, und sie mit solchen Müttern verglichen, die ihr Baby nur kurz sehen durften, wie es der damaligen Routine auf manchen Entbindungsstationen entsprach. Diese Studien gaben den entscheidenden Anstoß zu einer neuen Praxis der Geburtskliniken, dem Rooming-in, das gewiß den natürlichen Bedürfnissen von Mutter und Kind besser entspricht. Das gleiche gilt für das Stillen. Gestillte Säuglinge nehmen den vertrauten Muttergeruch ungleich stärker wahr als Flaschenkinder.

      Allerdings sind allein an eine Stunde gelungenen Kontakts direkt nach der Geburt keine Langzeiteffekte zu knüpfen. Menschliches Leben ist zu sehr auf Lernen und stetiges Erfahren angelegt, als daß ein punktuelles Ereignis für immer Weichen zu stellen vermag. Wir dürfen also nicht dramatisieren. Das Menschenbaby wird nicht wie das Lorenzsche Gössel bei der Geburt reflexhaft ein