Wie Kinder sprechen lernen. Wolfgang Butzkamm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Butzkamm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000942
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      Jürgen Butzkamm / Wolfgang Butzkamm

      Wie Kinder sprechen lernen

      Kindliche Entwicklung und die Sprachlichkeit des Menschen

      Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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      © 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

      Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

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      ISBN 978-3-7720-8667-0 (Print)

      ISBN 978-3-7720-0094-2 (ePub)

      Vorwort

      Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache.

      (Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm von)

      So manches er auch schon in seinem Leben gesehen hatte, so schien ihm doch die menschliche Natur erst durch die Beobachtung des Kindes deutlich zu werden.

      (Johann Wolfgang GoetheGoethe, Johann Wolfgang von, Wilhelm Meisters Lehrjahre)

      Die Sprache ist die bedeutendste Errungenschaft im Leben eines Menschenkindes. Unter seinen großen Gaben ist sie vielleicht diejenige, die am gleichmäßigsten und gerechtesten verteilt ist – etwa im Gegensatz zu Musik und Mathematik. Sie ist unser wichtigstes Organ zur Aneignung der Welt. Mit ihr regeln wir unser Zusammenleben. Eine Rechtsordnung gibt es nur in ihr und durch sie. Denn Recht wird gesprochen. Nur der sprachbegabte Mensch treibt Handel und tauscht Geld, Güter und Informationen mit Fremden. Sprache ist auch die Weise, in der wir uns zu uns selbst verhalten. Denken ist nicht gleich Sprechen, aber immer wieder kommen wir an den Punkt, wo wir uns selbst sagen müssen, wer wir sind, was wir denken und was wir tun sollen. Nicht nur Selbsterlebtes, auch Nieerlebtes ist sagbar. Keinem anderen Wesen ist es wie ihm vergönnt, ein wahrhaft erfülltes Leben zu führen, indem er in Wort und Schrift teilhat am Leben unzähliger anderer Menschen, ihren Erfahrungen, ihren Träumen und Fantasien. Allein der Mensch erzähltErzählen Geschichten, entwickelt Visionen, erfindet Götter und Mythen und fragt nach dem Grund seines Hierseins. Darüber hinaus bezeugen die großen monotheistischen Religionen GottGott, Gottesidee als einen, der spricht, und den gläubigen Menschen als einen, der zu seinem Gott spricht: Gebet als Zwiesprache. In der Sprache entdeckt der Mensch seine Freiheit und wird selbst zum Schöpfer. In ihr drückt sich unser Menschsein am klarsten aus. »Wenn der Homo sapiens die Welt eroberte, dann vor allem dank seiner einmaligen Sprache« (Harari) – mit heute noch unabsehbaren Folgen.

      Dieses Buch ist der Versuch, das Wunder der Sprache zu verstehen und die Sonderstellung des MenschenSonderstellung des Menschen unter den Geschöpfen dieser Erde herauszuarbeiten. Einblicke in das Werden der Sprache beim Kind bilden den faszinierendsten und schönsten Zugang zum Wesen der Sprache – und des mit der Sprache begabten Menschen. Sprache wird hier nicht (wovor schon Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm von warnte) »wie eine abgestorbene Pflanze«, sondern in ihrer lebendigen Aneignung dargestellt. Mit dieser Aneignungsarbeit allein betreibt das Menschenkind einen Lernaufwand, der ohne Parallele im Tierreich ist.

      Sprache ist auch der wichtigste Maßstab für die seelisch-geistige Entwicklung des Kindes. Diesen Zusammenhang haben wir hier versucht nachzuzeichnen.

      Räumen wir gleich mit dem Vorurteil auf, daß Sprache allein Lautsprache sei. Gewiß: für sie ist der Mensch besonders begabt. Aber die Sprachlichkeit des Menschen ist nicht an den artikulierten Laut gebunden. Sie ist das Vermögen zur grammatischen Zeichenverwendung. Auch taube Kinder, taubblinde und Kinder mit angeborener Sprechlähmung können zur Sprache kommen.

      Indem wir zeigen, wie Kinder in die Sprache hineinwachsen, geben wir Eltern, Großeltern und anderen Betreuern die Möglichkeit, die sprachlich-soziale und seelisch-geistige Entwicklung ihrer Kinder bewußter mitzuerleben. Was machen wir denn da, wenn wir mit unseren Kindern sprechen? Die meisten Mütter wissen intuitiv, wie sie ihr Baby ansprechen sollen. Haben wir nicht alle einst sprechen gelernt, ohne daß unsere Eltern gelehrte Bücher darüber gelesen hätten? Die Natur hat in diesem Punkt wenig den Zufällen von Geburtszeit und -ort, von elterlichem Rang und Stand sowie elterlicher Schulbildung überlassen. Beide, Eltern und Kind, sind auf den Spracherwerb instinktmäßig vorbereitet, auf je eigene Weise. So ist Sprache genetisch doppelt abgesichertSpracheGenetische Doppelsicherung. Welche Verhaltensbereitschaften hier spontan vorhanden sind, das versucht die Wissenschaft der Natur erst mühsam nachzubuchstabieren. Da wäre es töricht, so zu tun, als ob wir unbedingt wissenschaftlichen Rat bräuchten, um unsere Sprache erfolgreich an unsere Kinder weiterzugeben. Viele Mütter und Väter sind, wenn sie sich nur Kraft und Zeit für ihr Baby lassen, die geborenen Sprachlehrer – Sprachlehrer aus Intuition und keineswegs als studierte Fachleute.

      Noch mehr aber sind unsere Kinder geborene Sprachlerner. Wenn wir ihnen das Sprechen systematisch beibringen müßten, wie man das etwa beim Violinspielen muß, würden sie es nie lernen – es jedenfalls nicht zu der mühelosen Selbstverständlichkeit bringen, mit der wir gemeinhin unsere Muttersprache benutzen.

      Trotzdem erlauben wir uns, hin und wieder einen Ratschlag zu geben, zumal das Halbwissen besorgter Eltern zu einem wahren Frühförderwahn geführt hat. Den wichtigsten Rat geben wir gleich vorweg: Zuallererst müssen wir auf die Kinder hören. Das bedeutet vertiefte Hinwendung zum Kind. Wir lernen dabei nicht nur unsere Kinder besser kennen und verstehen, wir entdecken uns auch selbst als Eltern und finden heraus, wie wir von unserem Unbewußten geleitet werden, um dem Kind den Weg in die Sprache und in die Menschenwelt zu bahnen. Für niemanden sind wir als Mitmenschen so wichtig wie für unsere Kinder. Fundiertes Wissen erzeugt Verstehen. Verstehen erzeugt Liebe. Liebe aber erzeugt ihrerseits Liebe. Das gilt nicht nur für unsere Kinder. Die Beschäftigung mit der Kindersprache hat uns Autoren auch unsere Eltern wieder nahe gebracht, obwohl sie schon längst ins Grab gesunken sind. Denn unsere Sprache gehört uns nie allein, war sie doch zunächst die unserer Eltern. So kann das bessere Wissen um den Erwerb der Sprache ein Quell der Dankbarkeit und Freude sein und zum Gelingen des Lebens beitragen.

      Wie einst der große dänische Sprachforscher Otto JespersenJespersen, Otto setzen wir uns eine biologisch-biographische Sprachwissenschaft zum Ziel. Der Spracherwerb sich normal entwickelnder Kinder wird durch die authentischen, von der Norm abweichenden Geschichten behinderter wie auch hochbegabter Kinder ergänzt und verdeutlicht. Hier werden Zusammenhänge freigelegt, die unserer Selbsterfahrung gewöhnlich verborgen bleiben – ähnlich wie Freud sich aus dem Studium Kranker »wertvollste Winke zum Verständnis des Normalen« versprach. Mit diesem biographisch-vergleichenden, erzählenden und gemeinverständlichen Ansatz, der auch Selbsterlebtes einschließt, haben wir uns gleichwohl bemüht, Forschungsergebnisse unterschiedlichster Fachrichtungen einzuarbeiten, so auch die moderne Hirnforschung. So stehen wir bei vielen Wissenschaftlern in Schuld. Denn ein Buch dieses Titels ist entweder wissenschaftlich und schöpft aus vielen Quellen oder lächerlich.

      »Das Geheimnis der Menschwerdung und Sprachwerdung sind eins« (Martin BuberBuber, Martin). Neue Erkenntnisse haben den Menschen immer näher an seine Mitgeschöpfe herangerückt. Sie haben uns Bescheidenheit und Demut gelehrt. Ohne seine Tiernatur zu verleugnen, hebt dieses Buch die Geistnatur des Menschen hervor, gegründet in den unvergleichlichen Möglichkeiten seiner Sprache. Erst grammatische Sprache, der Inbegriff der Flexibilität – dies ist eine zentrale These des Buches – ermöglicht die Freiheit des DenkensDenkenFreiheit des Denkens (durch Sprache) und Fabulierens, wie sie uns schon in der Kindersprache begegnet. Der kindliche Spracherwerb ist uns somit ein Schlüssel zum Verständnis des Menschen überhaupt und dies Buch nicht zuletzt eine kleine philosophische Besinnung über den Menschen, der das »Sprachmonopol« (PlessnerPlessner, Helmuth) hat.

      Danksagung

      Unser Dank gilt zuerst den Kindern, den eigenen wie allen, die