Gesprochenes Portugiesisch aus sprachpragmatischer Perspektive. Bernd Sieberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Sieberg
Издательство: Bookwire
Серия: Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300892
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portugiesische Leser werden sich zudem, falls sie nicht über genügend Deutschkenntnisse für eine entsprechende Lektüre dieses Buches verfügen, mit Fug und Recht die Frage stellen, warum ich dieses Buch nicht auf Portugiesisch geschrieben habe und somit einem weitaus größeren Leserkreis zugänglich hätte machen können. Tatsächlich war dieses auch mein ursprüngliches Ziel. Ein portugiesischer Text wäre tatsächlich sinnvoller gewesen: Dieses Vorgehen kann ich nur so rechtfertigen, dass ich auch bereits viel Aufwand und Energie in eine portugiesische Version meiner Arbeit gesteckt hatte. Diese Arbeit war gekennzeichnet durch zeitraubendes und teilweise problematisches Übersetzen von zahlreichen Vorstellungen, Begriffen und Termini, die ihren Ursprung in der germanistischen GSF haben. Die ersten Kapitel hatte ich trotzdem bereits auf Portugiesisch geschrieben, bis zu dem Zeitpunkt, an dem meine zweisprachige Assistentin und potentielle Mitautorin aus dem Projekt ausstieg. Angesichts der bereits vorangeschrittenen Zeit – ich musste mein Sabbatjahr zur Arbeit am Buch nutzen und hatte im Bemühen um eine portugiesische Version meines Buches bereits viel Zeit verloren und Energie eingebüßt – blieb mir keine andere Wahl, als im Widerspruch zu meinem ursprünglichen Plan das Buch auf Deutsch weiterzuschreiben7.

      Natürlich schränkt ein Buch, das auf Deutsch sprachliche Erscheinungen des Portugiesischen beschreibt, den potentiellen Leserkreis erheblich ein. Als mögliche Nutznießer für ein Buch, das auf Deutsch (Metasprache) sprachliche Ausdrücke und Strukturen des Portugiesischen (Objektsprache) analysiert, verbleiben aber immerhin noch Lehrende und Lernende aus dem Bereich der Romanistik und komparatistischen Linguistik an deutschen, portugiesischen, brasilianischen sowie anderen ausländischen Universitäten. Dabei wird allerdings vorausgesetzt, dass diese potentiellen Leser über hinreichende Sprachkompetenz in beiden Sprachen verfügen.

      Zum Schluss dieses Vorwortes sei mir noch folgende kritische Bemerkung erlaubt, die im Zusammenhang mit dem in diesem Beitrag angestrebten Ziel einer Wissensvermittlung zwischen unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen steht. Es ist unbestritten, dass inzwischen Englisch als ‚Lingua Franca‘ bei internationalen Konferenzen und anderen Formen wissenschaftlicher Zusammenkünfte die Rolle zukommt, als ‚Vehikel‘ das Verständnis zwischen Teilnehmern unterschiedlicher Länder und Sprachen zu ermöglichen. Diese Leistung betrachte ich allerdings mit einem gewissen Vorbehalt. Wenn man von einem Begriff des ‚Verstehens‘ ausgeht, wie es Diltheys8 für den Begriff der Geisteswissenschaften definiert, setzt ein solches Verstehen voraus, dass dieser Wissenstransfer von Wissenschaftlern – im hier vorliegendem Fall sind speziell Sprachwissenschaftler gemeint – vorgenommen wird, die ihre Erkenntnisse auf der Grundlage von Begriffen vermitteln, die sich bei ihnen selber als Ergebnis ihres sinnlichen Nacherlebens und kognitiven Nachvollziehens der zu thematisierenden sprachlichen Phänomene herausgebildet haben. Diese Voraussetzung gilt für den Bereich beider Sprachen und Wissenschaftstraditionen, zwischen denen ein solcher Transfer vorgenommen werden soll. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn ein Linguist, der wie ich in der germanistischen GSF ‚groß geworden ist‘ sich das Ziel setzt, den Begriff ‚Überbrückungsphänomene‘ mittels des Begriffs ‚hesitações‘ ins Portugiesische zu übersetzen, sollte er in der Lage sein, diesen Begriff in beiden Sprachen und Wissenschaftstraditionen sowohl ‚kognitiv‘ als auch ‚sinnlich‘ nachzuvollziehen. Nur so kann es ihm gelingen, wirklich passende Begriffe einander zuzuordnen. Dazu gehört die Kenntnis der theoretischen Kontexte (Sekundärliteratur), in denen diese Begriffe jeweils gebraucht werden. Bedingung für ein solches ‚Verstehen‘ im Sinne Diltheys ist es aber auch ‚nachzuempfinden‘ zu können, welche Assoziationen Begriffe und Termini der Sprachwissenschaft auslösen, wenn sie von deutschen bzw. portugiesischen Muttersprachlern gebraucht werden. Der oberflächliche Wissenstransfers durch einen dritten vermittelnden Begriff wie den des englischen ,hedges words‘ stellt m.E. dabei nur eine Ausflucht und Scheinlösung dar. Er garantiert keineswegs, dass portugiesische Sprecher wirklich verstehen, was nun mit dem deutschen Begriff ‚Zögerungssignal‘ gemeint ist, wenn sie ihn über den Umweg des Begriffs ‚hedges words‘ kennenlernen. Auch aus dieser Perspektive gewinnt die vorliegende Arbeit an Bedeutung und rechtfertigt die viele Mühe und Zeit, die ich in sie investiert habe.

      1. Einleitung

      Sprache und Schrift sind zwei verschiedene Systeme von Zeichen; das letztere besteht nur zu dem Zweck, um das erstere darzustellen. Nicht die Verknüpfung von geschriebenem und gesprochenem Worte ist Gegenstand der Sprachwissenschaft, sondern nur das letztere, das gesprochene Wort allein ist ihr Objekt.

      (De Saussure [1916] 1967, 28)

      Das Sprechen ist nicht von der Sprache her zu erklären, sondern umgekehrt die Sprache nur vom Sprechen. Das deswegen, weil Sprache konkret nur Sprechen, Tätigkeit ist und weil das Sprechen weiter als die Sprache reicht. Denn während die Sprache ganz im Sprechen steckt, geht das Sprechen nicht ganz in der Sprache auf.

      (Coseriu [1975] 2007, 58)

      Ziel dieser Untersuchung ist es, sprachliche Merkmale der mündlichen portugiesischen Kommunikation aus sprachpragmatischer Perspektive1 zu beschreiben. Die onomasiologische Vorgehensweise – von Funktionen zu sprachlichen Merkmalen zur Wahrung dieser Funktionen – nimmt dabei ihren Ausgang von Aufgaben, die sich daraus ergeben, dass Sprechen in konkreten Situationen und in Anwesenheit von Gesprächsteilnehmern und ihren Interessen erfolgt. Aus diesen Umständen erwachsen Beschränkungen und Möglichkeiten, die wesentlich die Art und Weise prägen, wie die beteiligten Personen unter diesen Bedingungen vom verbalen Code Gebrauch machen. Die weitere detaillierte Bestimmung und Gliederung entsprechender sprachlicher Ausdrücke und Strukturen im Zusammenhang mit den Faktoren ‚Situation‘ und ‚Anwesenheit von Gesprächspartnern‘ erfolgt dabei im Rahmen des Modells des Nähe- und Distanzsprechens (Ágel / Hennig 2006a, 2006b, 2007), seines Axioms, seiner universalen Diskursverfahren, seiner Begriffe und seiner Terminologie. Die entsprechenden Grundannahmen, die dieses Konzept prägen, werden in ‚Kapitel 4‘ vorgestellt. Zusammen mit Erkenntnissen der „Interaktionalen Linguistik“, der zufolge es beim dialogischen Sprechen immer auch darum geht, „intersubjektiv Bedeutung herzustellen und soziale Beziehungen zu gestalten“ (Imo 2015, 3), werden in den Kapiteln dieses Buches charakteristische Erscheinungen des mündlichen Portugiesisch – der Begriff ‚mündlich‘ wird im Folgenden durch den umfassenderen Begriff ‚nähesprachlich‘ (siehe ‚Kapitel 4‘) ersetzt – erläutert und in einem systematisch und hierarchisch geordneten Zusammenhang erklärt.

      Untersuchungen zum gesprochenen Portugiesisch findet man in den letzten Jahren immer häufiger (siehe auch ‚Kapitel 2‘). Dazu zählen insbesondere Studien, die phonetische oder lexikalisch-geographische Aspekte2 der ‚Gesprochenen-Sprache-Forschung‘ thematisieren. Pragmatische Gesichtspunkte werden hingegen relativ selten erörtert, und wenn, fehlt es den entsprechenden Beiträgen meiner Einschätzung nach oft an einer durchdachten konzeptionellen Grundlage. Entsprechend zusammenhangslos werden die entsprechenden Erkenntnisse präsentiert, was wiederum zur Folge hat, dass sie nicht angemessen wahrgenommen werden und infolgedessen in den Referenzgrammatiken3 – zumindest zum Kontinentalportugiesisch – bis jetzt keine angemessene Beachtung gefunden haben.

      Zur Vermeidung bestimmter Vorurteile, die sich leider nur allzu schnell mit dem Begriff der gesprochenen Sprache verbinden: Es geht in diesem Buch weder um Dialekte, Soziolekte oder Gruppensprachen – wie z.B. der Jugendsprache –, sondern um Formen und Ausdrucksweisen, die allgemein und variantenübergreifend erforderlich sind, um mündliches oder schriftlich basiertes Nähesprechen überhaupt erst zu ermöglichen.

      Die einleitenden Zitate von zwei der renommiertesten Sprachwissenschaftler des 20. Jahrhunderts heben die besondere genealogische und methodologische Vorrangigkeit gesprochener Sprache im Vergleich zum schriftlichen Ausdruck hervor und bieten somit einen geeigneten Ausgangspunkt für das Thema des Buches. Nun wird sich der Leser vielleicht zweifelnd fragen, ob es denn nicht im Gegenteil der schriftliche Ausdruck und die auf seiner Basis entstandenen Werke der Literatur und Wissenschaft sind, die Kultur und den Stolz einer Sprachgemeinschaft prägen und die kulturelle Identifikation von Individuen ermöglichen?4 Dieser Meinung kann man nur zustimmen, und auch an dieser Stelle soll die überragende kulturelle Bedeutung des