Digitale Diskurse und Wikipedia. Eva Gredel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Gredel
Издательство: Bookwire
Серия: Dialoge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783893080014
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verschiedenen Kontexten relevant: Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der reflektierte Umgang mit Wikis und vor allem mit der Wikipedia nicht nur unter dem Vorzeichen der Zitierfähigkeit in der Hochschullehre zu diskutieren ist. Wikipedia wird etwa auch als Anschauungsobjekt für Schreibtrainings genutzt. Im Dialog mit Lehrern hat sich herausgestellt, dass eine Heranführung von Schülern an die reflektierte Nutzung der Wikipedia sehr viel zielführender ist und zu mehr Medien- und Informationskompetenz führt als ein grundsätzliches Verbot der Wikipedia.

      Die Wikipedia wird zunehmend auch für die journalistische Recherche genutzt. Den Journalisten kommt in ihrer Funktion als Informationsmittler die besondere Aufgabe zu, Informationen aus dem Netz vor der journalistischen Weiternutzung besonders eingehend zu prüfen. Für diese Berufsgruppe ist deshalb ein kompetenter Umgang mit Wikipedia unumgänglich. Die Wikipedia ist aufgrund ihrer Reichweite auch für die Darstellung von Organisationen und Institutionen nicht zu unterschätzen. PR-Experten haben die Wikipedia als PR-Kanal entdeckt und es gibt Projekte zu bezahltem Schreiben in der Wikipedia. Nicht zuletzt können auch Wissenschaftler, die zum interdisziplinären Feld der Wikipedistik beitragen möchten, indem sie die Wikipedia oder grundsätzlich Wikis zum Untersuchungsgegenstand ihrer Forschungsprojekte machen, inspirierende Hintergrundinformationen in diesem Buch finden.

      1.1 Wikipedia als Online-Enzyklopädie und diskursiver Raum

      Die Wikipedia ist nicht nur ein kontrovers diskutiertes Nachschlagewerk, das vielen im Alltag zur ersten Orientierung dient, sondern mit über 40 Millionen Artikeln in rund 295 Sprachen auch die größte (Online-)Enzyklopädie weltweit. Monatlich greifen 500 Millionen Nutzer auf ihre Inhalte zu und Tausende ehrenamtlicher Autoren erweitern die Wikipedia kontinuierlich.

      Die Erfolgsgeschichte der Wikipedia begann 2001 mit der Idee des Gründers Jimmy Wales, der sich fragte: „Was wäre, wenn das gesamte Wissen der Menschheit frei zugänglich ist?“ (Wikimedia e.V. Deutschland 2011: 9). Zwischenzeitlich liegt Wikipedia auf Rang 5 des Alexa-Rankings und ist somit eine der erfolgreichsten digitalen Plattformen weltweit („The top 500 sites on the web“1) noch vor dem sozialen Netzwerk Twitter (Rang 10).

      Rund 17 Jahre nach ihrer Gründung verzeichnet die Wikipedia auch zahlreiche Artikel zu aktuellen Ereignissen oder prominenten Personen, die auf ein besonders großes Interesse stoßen: So wurde die Wikipedia-Seite zu Donald Trump in der englischen Wikipedia allein im Januar 2017 mehr als neun Millionen mal aufgerufen.2 Zu vielen dieser Artikel in der Wikipedia gibt es hypertextuell verknüpfte Diskussionsseiten, die den Autoren die Möglichkeit geben, die Ausgestaltung der Einträge, aber auch den Prozess der kollaborativen Wissensproduktion zu thematisieren. Die Online-Enzyklopädie ist somit nicht nur als eines der erfolgreichsten Projekte im Social Web zu verstehen, sondern auch als sozialer Raum zu deuten, in dem Wissen sprachlich von vielen Akteuren ausgehandelt wird.

      Ein Grund für die frequente Nutzung der Wikipedia ist sicherlich auch, dass sie in der Suchmaschine Google oftmals unter den ersten Treffern zu finden ist, wie Spoerri bereits in der frühen Phase der Wikipedia feststellen konnte: In einer Fallstudie fand er heraus, dass bereits 2007 rund 96 Prozent der Einträge in seinem Sample an Wikipedia-Artikeln unter den sieben ersten Google-Treffern zu finden waren (Spoerri 2007: o.S.).

      Bei einer Befragung deutscher Internetnutzer antworteten vier von fünf der rund 1000 Befragten, dass sie Wikipedia nutzen. Auch das Vertrauen in die Qualität der Wikipedia ist relativ hoch: Von den befragten Wikipedia-Nutzern stimmten 67 Prozent der Aussage zu „Die Inhalte der Artikel sind meistens verlässlich“. Weitere zwölf Prozent der Wikipedia-Nutzer hielten die enzyklopädischen Inhalte der Wikipedia für „immer verlässlich“.3

      Ausschlaggebend für den Erfolg der Wikipedia ist sicher auch das große Spektrum an Themen, das dort enzyklopädisch dokumentiert wird. Die im Folgenden überwiegend betrachtete deutsche Sprachversion belegt – bei Betrachtung der Artikelzahl – mit ihren rund 2,18 Millionen Artikeln Platz vier der Liste der größten Sprachversionen. Angeführt wird die Liste von der englischen Sprachversion mit 5,65 Millionen Artikeln, gefolgt von der Sprachversion in Cebuano4 (5,38 Millionen Artikel) und der schwedischen Sprachversion (3,78 Millionen Artikel). Anzumerken ist jedoch, dass es große Unterschiede zwischen den Sprachversionen gibt: In der cebuanosprachigen Wikipedia etwa werden 99 Prozent und in der schwedischen Wikipedia 58 Prozent der Bearbeitungen von Bots durchgeführt, wohingegen in der englischen Version nur neun Prozent und in der deutschen Version lediglich zehn Prozent der Bearbeitungen durch Bots erfolgen. Vor allem in der Cebuano-Version sind viele Artikel kurze bot-generierte Übersetzungen aus anderen Sprachversionen.5

      Die Sprachversionen unterscheiden sich jedoch nicht nur durch den Anteil maschinell erzeugter Textpassagen. Es gibt auch große Unterschiede bezüglich der Seitenaufrufe, die die einzelnen Sprachversionen aufweisen können und die deren Relevanz und Reichweite belegen: Die englische Sprachversion wird 4,5 Millionen mal, die deutsche Sprachversion 640000 mal pro Stunde aufgerufen. Die schwedische Version hingegen nur 34500 mal, die Version in Cebuano sogar nur 1270 mal pro Stunde.6

      1.2 Wikipedia als Diskussionsgegenstand

      In den mittlerweile 17 Jahren ihrer Geschichte ist und war die Wikipedia immer wieder Gegenstand gesamtgesellschaftlich geführter Debatten. Besonders gut lässt sich die mediale Berichterstattung zur Wikipedia in Zeitungen, im Radio und im Fernsehen rekonstruieren. Dies gelingt der Wikipedia-Gemeinschaft eindrucksvoll auf einer eigens eingerichteten Seite des Wikipedia-Projekts unter dem Titel „Pressespiegel“ (Wikipedia 2018: Pressespiegel). Dieser Pressespiegel wird durch Wikipedia-Autoren erstellt und erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Deutlich wird über diese Zusammenschau dennoch, dass das mediale Interesse an Wikipedia nach wie vor ungebrochen ist. Berichteten anfangs eher besonders netzaffine Medien, finden sich mittlerweile monatlich Berichte zu unterschiedlichsten Aspekten der Wikipedia in Qualitätszeitungen wieder.

      Im Wikipedia-Pressespiegel werden Beiträge zur Wikipedia in deutschsprachigen Medien aufgeführt. Der Pressespiegel ist unter dem folgenden Link zu finden: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Pressespiegel.

      In den ersten Jahren der Wikipedia-Geschichte (2002/2003) dominierte in der medialen Berichterstattung die Präsentation des Formats einer kollaborativ erstellten Online-Enzyklopädie. Titel der Medienbeiträge gaben auch Auskunft über die ersten Erfolge der Wikipedia gemessen an deren Artikelzahlen, wie etwa „Online-Enzyklopädie Wikipedia mit mehr als 200000 Artikeln“.1 Thematisiert wurde in der frühen Phase die Offenheit der Wikipedia und die Möglichkeit aller Internetnutzer die Enzyklopädie zu editieren.

      Ab 2005 weist der Pressespiegel dann einige negative Meldungen auf, in denen Journalisten Überforderungsdiagnosen stellten. Manche Aspekte der Wikipedia werden in medialen Diskursen ambivalent diskutiert: So heißt es am 28. Mai 2005 im Focus noch „Die Reaktionsgeschwindigkeit ist Wikipedias Trumpf – Schon am Abend der Papstwahl erschien in der freien Enzyklopädie ein umfangreicher Eintrag über den neuen Heiligen Vater“.2 Während hier noch die Aktualität der Wikipedia gelobt wird, werden zu einem späteren Zeitpunkt des Jahres – wiederum im Focus – inhaltliche Mängel kritisiert: „Lexikon mit Lücken. Die Web-Enzyklopädie Wikipedia, unter Manipulationen und Fehlern leidend, ringt um ihr gutes Image“.3 Ein wiederkehrendes Thema ist in den Medien auch die Finanzierung der Wikipedia: 2014 betitelt die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Beitrag wie folgt: „Spendenwunder Wikipedia. Warum das Online-Lexikon so erfolgreich Geld einwirbt“.4 Nur zwei Jahre später heißt es dort abwertend: „Alle Jahre wieder bittet Wikipedia um Spenden. Aber was passiert mit dem Geld eigentlich genau?“5

      Die Beispiele zeigen, dass sich die anhaltende mediale Auseinandersetzung mit der Online-Enzyklopädie insbesondere auf deren innovative Aspekte fokussiert: Es geht immer wieder um die kollaborative Natur der Wikipedia, die von vielen Autoren ehrenamtlich erstellt wird. Auch die Finanzierung durch zahlreiche (z.T. kleine) Geldsummen vieler Spender (Crowdfunding) führt zu umfangreichen Kontroversen in den Medien.

      1.3 Wikipedia als Recherchewerkzeug und Nachrichtenquelle

      Für die Nutzung der Wikipedia als Recherchewerkzeug durch Journalisten