«Nei, hött sägi! Schtärne feufi nomol!»
«Ich be vor dier im Eiholz gsii.»
«Jetz losed emol.»
Klein, energisch, kaum dreissig Jahre alt, seit zwei Jahren erst auf dem Hof, stellte sich die Mutter zwischen die Riesen. Sie, die den grossen Haushalt zu führen hatte, musste zusätzlich auch noch zwischen drei oder vier Hitzköpfen schlichten.
Jetzt bestimmte sie die Richtung: «I d’Allmänd, ond zwar alli zäme. Klar? Oder hed no öpper e Frog?» Zu ihrem eigenen Erstaunen hatte ihr Auftritt Erfolg.
Aber da waren auch ihre Ängste: Sie könnte ihrer neuen Aufgabe nicht gewachsen sein, der Krieg könnte auf das Land übergreifen, ihr Mann könnte umkommen. Da war Lisbeth, die einjährige Tochter, und da war ich, der Säugling und Stammhalter, der Vaters Namen trug und der sich nicht entscheiden konnte, ob er leben oder sterben wollte.
Mutter hätte zerbrechen können. Aber sie hatte es geschafft. Wir hatten es beide geschafft. Die Knechte nannten sie Meisterin.
1889, Vevey VD
Aline Valangin
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Das Kind würde ein schöner Knabe werden, klug und rasch und in allem ganz anders als der Vater. Es würde ihr Freund werden und alles ersetzen, was sie in Brüche gehen sah. Ja, das Kind.
Fast ist sie daran gestorben. Der Mann hatte sich nicht die Mühe genommen, in seiner grossen Trägheit nachzudenken, dass die Geburt eine schwere schwere Stunde für die Frau ist. Die erste beste Hebamme wurde bestellt. Sie erschien betrunken. Die Geburt dauerte zwei Tage und drei Nächte, und die ganze Zeit über war die trinkende und ständig angeheiterte Frauensperson um meine Mutter als einzige Hülfe. Sie schrie, in grösserer seelischer Not noch als in körperlicher, obschon die physische Qual längst unerträglich war; sie schrie zum Himmel, er möge das Kind aus ihrem Leibe erlösen; sie schrie, sie brüllte, als die Schmerzen stiegen und unendlich sich ausdehnten, dass nichts als eine Hölle der Pein um sie war, das Kind möge unverletzt bleiben, es möge leben. Sie bäumte sich gegen die Schatten, die nach ihr griffen, gegen die Schwäche, die überhand nahm, und immer wieder schrie sie ihre Bitte um Erlösung. Langsam fing sie an, in Nacht zu tauchen. Seltsam war das. Sie wollte doch leben, aber etwas wollte nicht, dass sie lebe. Sie staunte. Müsste sie vielleicht sterben? Und ein Nein in ihr geschrien als Antwort. Und wieder beginnt der Kampf. Aber lahmer. Und wieder so eine Nacht und daraus eine Frage behalten: Wohl muss sie sterben? Oh, das schöne Leben. War es schön? Ja früher und jetzt … das Kind. Schrei um Schrei. Das Kind darf nicht sterben, auch nicht allein bleiben; also muss auch sie leben. Leben. Nicht dein Wille geschehe, nein, oh, bitte nein, nicht der deine. –
Und das Kind wurde geboren, mit ganz verschobenen Schädeldecken und einem Schopf braunen Haares. Es war ein braunes Mädchen. Ich.
1939, Zürich
Jeannot Bürgi
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Ich war meinen leiblichen Eltern kein Wunschkind. Mit dieser Feststellung und Erkenntnis bin ich sicher nicht allein, kein Sonderfall. Trotzdem, eine Frage beschäftigte mich ein Leben lang: Warum hat mich meine Mutter ausgesetzt, in einer Kartonschachtel beim Müll am Strassenrand entsorgt? Ich dachte, ich sei schon längst darüber hinweg, es mache mir überhaupt nichts aus, darüber zu sprechen, nachzudenken. Jetzt entdecke ich, nachdem ich siebzig Jahre alt geworden bin und ein ganzes, reiches Leben hinter mir habe, dass es mir noch immer etwas ausmacht, dass da noch immer die Frage im Raum steht, dieses «Warum», auf das ich bis zum heutigen Tag keine Antwort gefunden habe.
Meine Erklärung ist einfach und auf der Hand liegend: Ich war ihr Last und Störung, ich passte nicht in ihr Leben, sie hatte sich das so nicht vorgestellt. Ein Gof, das fehlte gerade noch, damals Ende der dreissiger Jahre, mitten in Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, mit dem Krieg vor der Tür. Das Leben damals war schon allein schwer genug, ein Kind ein Esser mehr, eine Sorge dazu, ein Hindernis, Verantwortung und Kosten. Sie musste über die Runden kommen, Anschaffen hiess das in ihrem Fall, für sich und wahrscheinlich auch für ihren Zuhälter. Sicher war sie jung, leichtsinnig und oberflächlich, schliesslich war es ihr egal, was mit dem geschah, was sie da in die alte Schachtel stopfte. Abfall eben, den man los sein will.
1951, Basel
Urs Schaub
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Fürs Erste, was ich tat, als ich auf die Welt kam, war ich zwar nicht verantwortlich, aber ich tat es gründlich: Ich enttäuschte meinen Vater.
Sein Herzenswunsch war eine Tochter. Sogar wie sie heissen sollte, war längst ausgemacht. Warum sich allerdings ausgerechnet jener Name in seiner Seele eingenistet hatte, war aus ihm nie herauszubringen gewesen. Hatte er ein Pin-up der nationalen Schönheit gesehen, deren internationale Filmkarriere kurz nach meiner Geburt begann? Wie auch immer: Aus traditionellen Gründen war ebenso klar, dass zwei Kinder genügen mussten, es also auch in Zukunft für den geliebten Namen keine Verwendung mehr geben würde. Basta und aus. Kurzerhand wurde der Name um seinen weiblichen Teil amputiert, und die übrig gebliebenen drei Buchstaben wurden zu meinem Namen. Ein hierzulande sehr verbreiteter Name, der im Ausland – zumindest in zwei von vier Himmelsrichtungen – nicht besonders gut auszusprechen war. Mir hätten die drei abgeschnittenen Buchstaben besser gefallen. Vor allem in meiner Indianerphase wären mir diese mythisch klingenden drei Buchstaben unbedingt willkommen gewesen.
1878, Trimmis GR
Paul Thürer
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Ich wurde geboren am 17. Juli 1878 als erstes von vier Kindern des Bauers Georg Thürer, Bürger von Valzeina, wohnhaft in Trimmis, Kanton Graubünden und der Elisabeth Meng von Says, wohnhaft auf Valtana [Valtanna] und wurde in der evangelischen Kirche von Trimmis am 21. Juli von Pfarrer Paul Hitz getauft. Nach seiner Verheiratung wohnte mein Vater ein Jahr lang bei seinem Schwiegervater Johannes Meng-Engi auf Valtana. Er erkannte aber bald, dass er es hier nicht weit bringen würde und gab daher seinem Freunde und Geschwisterkind seiner Frau, Peter Florian Meng auf dem Hofe Plankis bei Chur den Auftrag, sich für ihn nach einem Bauerngut in der Nähe von Chur umzusehen. Dieser meldete ihm bald darauf, dass die Gaisweid [Geissweid] in der Nähe von Plankis käuflich sei. Das Gut wäre billig, allerdings in sehr schlechtem Zustande. Ein junger, tüchtiger Mann könnte aber etwas aus ihm machen. Mein Vater kaufte das Gut und zog am 8. Februar 1879 mit seiner Familie auf die Gaisweid. Die Schwester meines Vaters, Betti Thürer, trug mich kleinen Burschen mitten im Winter auf ihren starken Armen drei Stunden weit von Valtana bis auf die Gaisweid. Denn einen Kinderwagen besassen meine Eltern nicht und haben einen solchen überhaupt nie besessen. Man legte die Kinder zum Schlafen in die Wiege oder trug sie im Sommer in einer Zeine aufs Feld oder machte im Baumgarten aus einem Heutuch für sie eine Hängematte, der man einen Stoss gab, wenn sie zu schreien anfingen. Oft habe ich so als kleiner Knabe meine Schwester geschaukelt, wenn sie in der Matte oder in der Wiege lag.
1924, Schwyz
Martha Farner, *1903
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Im Vorsommer 1924 – ein unvergleichlich schöner Tag. Die Fenster im Parterre weit geöffnet zum Hof hinaus, ich hörte ein dünnes Stimmchen, es weinte. Darauf eine tiefe Frauenstimme, die sagte «Nenäi, Chindli, die Stäinli tüend dier nid wee. Lueg d Vögäli hend au ekäni Schue und singid nu derzue!» Wie schön, dachte ich, aber schon läutete die Hausglocke. Ich öffnete. Vor mir stand eine Frau mit einem kleinen Kind kaum älter als drei Jahre. Tränen bahnten ihren Weg über das schmutzige Gesichtlein. Die Hand lag in der seiner Mutter. Die Frau war klein von Wuchs und von einer dürren Magerkeit. Braun gebrannt die Haut, lachte sie mir entgegen mit dunklen Augen und langen Wimpern. Mutter und Kind waren barfuss. Der Rockschurz hing an ihr wie an einem Kleiderbügel, obschon sie hochschwanger war. Auf den ersten Blick sah