Ländlicher Schmerz. S. Corinna Bille. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: S. Corinna Bille
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038550129
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niedergefahren.

      – Das soll dich lehren zu trotzen!

      Das Kind wankte, aber es gab keinen Laut. Es schloss nur die Augen, um sein Weh zu begraben.

      – Setz dich.

      Das Kind setzte sich. Trüb ging die Stunde weiter.

      – Augustine: Wie viele Arten von Engeln gibt es?

      – Es gibt zwei Arten: Die guten sollen wir ehren und anrufen, weil sie uns an Leib und Seele beschützen. Die bösen, die man Teufel nennt, sollen wir hassen, weil sie uns mit sich in die Hölle ziehen wollen.

      Der Pfarrer hörte nicht mehr zu. Diese Ohrfeige hatte ihn nicht beruhigt, sondern seinen gereizten Zustand noch verschlimmert. Und das Bedürfnis, noch weiter zu schlagen, peinigte ihn. Seine Hände, die er aneinanderrieb, knisterten wie dürre Blätter. Wenn er etwas hätte zerbrechen können, einen Fusstritt in die Bänke geben, die Scheiben einschlagen, so hätte ihn das wahrscheinlich erleichtert. Aber niemand würde es verstehen. Man würde ihn für verrückt halten, fortjagen!

      – Sylvain, ich sage dir die Sätze einen nach dem andern vor, und du kannst sie wiederholen.

      Die Schüler wunderten sich über die ungewohnte Milde seiner Stimme. Er nahm die gestellte Frage noch einmal auf und sprach dann die Antwort langsam vor, Silbe für ­Silbe.

      – Wiederhole.

      Das Kind bewegte die Lippen, aber es brachte keinen Ton hervor.

      – Willst du reden oder nicht? Ich wiederhole: Weil von aller Ewigkeit … Sprich nach.

      Sylvain blieb stumm.

      – Ah, diesmal ist es noch schlimmer! Der Priester stellte es mit Genugtuung fest: Sein Zorn war gerechtfertigt. Abermals schlug er zu. Wie war sie hart, diese knöcherne Hand, und so lang, dass sie nicht nur die Wange traf, sondern auch den Kiefer und die Schläfen! Er ohrfeigte abwechselnd von der einen und von der andern Seite, und nochmals, und nochmals. Er konnte nicht mehr aufhören. Die Schüler schauten entsetzt zu und zogen den Kopf ein.

      Schliesslich fiel der Bub auf die Bank, seine Stirne schlug dumpf auf dem Pultdeckel auf. Er war nicht bewusstlos, er weinte nicht.

      Und die Stunde nahm ihren Fortgang, scheinbar ruhig.

      – Arthur! Was ist der Mensch ?

      – Der Mensch ist ein vernünftiges Geschöpf, bestehend aus einem Körper und aus einer Seele, die nach dem Bilde Gottes geschaffen ist.

      *

      Von diesem Tag an sprach Sylvain nicht mehr.

      Als er aus der Schule kam, erkundigte sich die Mutter nicht, warum sein Gesicht so rot und aufgeschwollen sei, denn sie gab kaum Acht auf ihn und redete fast nie mit ihm. Er ass seine Kartoffelsuppe wie gewöhnlich, ohne ein Wort.

      Dann kehrte er in die Schule zurück; aber anstatt den Ausführungen des Lehrers zu folgen oder in sein blaues Heft zu schreiben, blieb er untätig sitzen, mit abwesendem Blick, das Gesicht zwischen den Händen wie in einem Verband. Der Lehrer verlangte nichts mehr von ihm, der Pfarrer auch nicht. Man liess ihn in Ruhe. Aber es fiel auf, dass sein misshandeltes Gesicht von Tag zu Tag mehr anschwoll. Beidseits des Mundes wurde die Haut bläulich, und stellenweise liessen gelbe Flecken auf Eiter schliessen. Der Lehrer redete ihm zu:

      – Sag deiner Mutter, sie solle dir Umschläge machen.

      Aber er sprach nicht mehr, und seiner Mutter fiel es nicht ein, ihn zu pflegen. Schliesslich war es eine Nachbarin, die Hebamme des Dorfes, die sich um ihn kümmerte. Sie kannte sich etwas aus in der Heilkunde. Es war zu spät, das Übel verschlimmerte sich. Bald ass er nicht mehr.

      – Das fault ja!, rief die Frau entsetzt.

      Man hatte im Dorf die Geschichte von den Ohrfeigen vernommen, aber niemand wagte aufzubegehren. Es wurde nur getuschelt: «Das hätte der Pfarrer nicht getan, wenn der Kleine einen Vater und eine rechte Mutter gehabt hätte.»

      Der Bub ging jetzt nicht mehr zur Schule. Er blieb auf dem Strohsack liegen in seinem Kämmerchen, das eigentlich nur ein Verschlag ohne Fenster war. Man flösste ihm dünne Nahrung durch ein Röhrchen ein, das man ihm zwischen die aufgedunsenen Lippen schob, und man legte ihm Wegerich-Umschläge aufs Gesicht. Er äusserte weder Schmerz noch Zorn. Er klagte nicht. Hörte er überhaupt, was um ihn her gesprochen wurde? Man konnte es nicht wissen. In seinen Augen stand eine unermessliche, eine namenlose Angst. Nur seine Hände, die von der Arbeit schon breit und schwer geworden waren, so dass sie einem Mann und nicht einem Kind zu gehören schienen, gaben noch Lebenszeichen. Sie glitten suchend über die Decke, rollten ihre zerfransten Ränder ein und wieder aus und begannen von neuem.

      Woran dachte er?

      – Er war nicht für diese Erde gemacht, und die Leute schüttelten den Kopf.

      Der Pfarrer hatte das alles erfahren. Man sah ihn seltener. Er ging tagelang fort, man wusste nicht wohin. Eines Abends klopfte er an Ursules Türe.

      – Ich möchte den Knaben sehen, sagte er.

      Sylvain schlief und rührte sich nicht. Der Besucher wollte etwas ausdrücken, aber er konnte es nicht. Er legte am Fussende ein Paket nieder und ging fort wie ein Übeltäter.

      Was hatte er gebracht?

      Ursule riss das Paket auf. Sie war höchst erstaunt, als eine Weihnachtskrippe unter Glas zum Vorschein kam. Dieses seltsame Geschenk war der Zweck all der Gänge des Priesters gewesen. Er war durch manches Dorf gekommen, hatte an manches Pfarrhaus, an manche Türe geklopft und jedes Mal gefragt:

      – Habt Ihr nicht zufällig eine von diesen alten kleinen Weihnachtskrippen? …

      – Ach so, Ihr seid Liebhaber von Altertümern?, antwortete man ihm.

      Schliesslich hatte er eine gefunden, die der fortgewor­fenen ganz ähnlich war. Und in der Hoffnung, ihm eine Freude zu machen, hatte er sie dem Kind gebracht.

      – Sieh doch, sagte die Mutter und beugte sich zu ihm hinunter.

      Da merkte sie, dass es tot war.

      Sie wird ihr Stübchen nicht mehr sehen

      Schwester Damien schritt durch den langen Korridor des Spitals.

      Jemand zupfte sie am Ärmel. Sie fuhr zusammen, aber ihr Gesicht blieb gleichmütig. Sie hatte es schon so oft über die Gesichter der andern gebeugt, dass es verlernt hatte, für sich selbst zu leben; und die Nonne hatte schon so manchen Herzschlag abgehorcht, dass sie ihr eigenes Herz nicht mehr in den Lippen pochen fühlte wie die andern Frauen. Dennoch wirkte ihre gestärkte Haube festlich, als sie sich umwandte.

      Was wollte dieser Mann von ihr?

      Aber das war ja kein Mann mehr, es war das Zerrbild eines Mannes, was da vor ihr stand, noch wortlos, aber so voll von Schreien, dass sie schmerzten, noch ehe man sie hörte. In den achtlos übergestrupften Kleidern hatte der Körper seinen gewohnten Platz nicht wiederfinden können, die Falten waren verrutscht, die Knopflöcher würgten die Knöpfe oder standen nutzlos offen, die Schnürsenkel hingen auf den Bo­den. Und über all dem das Gesicht … Wo sollte Schwester ­Damien den Mut hernehmen, es anzuschauen ? Lieber mit einer Wunde zu tun haben als mit ­diesem Gesicht: Sie besass kein Mittel, es zu heilen. Alles lief daran herunter, der Nasenschleim, die Tränen. Nur der lippenlose Mund blieb verschlossen, er allein hielt den Schmerz zurück.

      Er war kein Fremder für Schwester Damien. Sie versuchte in diesem Wrack den Bergbauern wiederzuerkennen, den sie schon mehrmals gesehen hatte und dessen natürlicher Adel, dessen Zurückhaltung in Wort und Gebärde ihr jedes Mal Bewunderung abnötigte. Umsonst. Es war eine solche Veränderung mit ihm vorgegangen, ein solcher Bruch geschehen, dass sie dieselbe Angst überkam wie damals, als sie sich bemüht hatte, die zerbrochene Kapellenscheibe wieder zusammenzufügen, und dann an Stelle des schönen Evangelisten Johannes ein lendenlahmes, buckliges, grinsendes Ungeheuer entstanden war.

      Sie schwieg noch immer.

      Der Mann packte sie am