Karoline Georges Roman
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel De synthèse.
© 2017 Éditions Alto, Québec
Erste Auflage
© 2021 by Secession Verlag für Literatur, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Frank Heibert
Lektorat: Alexander Weidel
Korrektorat: Peter Natter
Typografische Gestaltung und Satz: Ferdinand Ulrich, Berlin
Gesetzt aus FF Hertz und Ginto Nord
Herstellung: Daniel Klotz, Berlin
ISBN 978-3-907336-04-5
eISBN 978-3-907336-05-2
Für dich, Maman
Inhalt
Ich wurde geboren zwischen dem Erscheinen von Darwins Über die Entstehung der Arten und dem Augenblick, da die Voyager 1 das Sonnensystem verließ und auf ihrem Weg durch die Raumzeit die Kurve der Evolution nachzeichnete.
Ich tat meinen ersten Atemzug in einer Blase, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer schneller immer größer wurde, in einem elektrischen Mahlstrom, einem Summen der integrierten Schaltkreise, Maschinen und verwandelten Stofflichkeiten und Allzweckdinger, in einem aufgeblähten Wust aus Informationen und Sendungen, einer pilzförmigen Hypertrophie, so überwältigend wie die Rauchwolke der Zar-Bombe einige Sekunden nach der Explosion. Auf dem Bild der größten Detonation der Atomgeschichte erhebt sich das ganze 20. Jahrhundert bis zum Mond, dann wirbelt es über die Milchstraße hinaus, den Ursprung des Universums im Blick.
Die Epoche, in die ich hineingeboren wurde, ähnelt einem pilzförmigen Auge, das sein Blickfeld erweitern will, um Makrokosmos und Mikrokosmos zugleich wahrzunehmen und dann alles durch das Maul der Medien wieder auszuspucken, vor dem ich einen Gutteil meines Lebens zur Statue erstarrt saß, im Schneidersitz seit der Kindheit, ob ich nun vor einem Zeichentrickfilm in die Hände klatschte oder sie ob der großen Stille, als das World Trade Center einstürzte, vor den weit offenen Mund schlug.
Doch inmitten der Entdeckungen, der elektronischen Technologien und anderen Wunder der Wissenschaft, die seit zwei Jahrhunderten alles auf den Kopf stellen, bestimme ich jetzt mit einer Maske und einem Paar Handschuhe den Horizont meiner Evolution selber. Seit fast einem Jahrzehnt befinde ich mich jeden Tag in der virtuellen Realität, meinem Double aus Pixeln gegenüber, und versuche, durch dieses Double Gestalt anzunehmen.
Fast hätte ich es geschafft.
Doch dann fing meine Mutter an, sich aufzulösen.
Über die Wirklichkeit
Um mich her keine Möbel, kein Gegenstand. Nur etwa hundert Grünpflanzen an den Wänden meines Studios. Am Ende des Raums geht eine Glaswand auf den Horizont Richtung Westen hinaus. So weit das Auge reicht, tausende Wohnwürfel.
Zwischen der Glaswand und mir befindet sich meine Mutter.
Sie wendet mir den Rücken zu. Das ist mir recht.
Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal meine Intimsphäre mit ihr teilen würde.
Ich weiß wohl, dass wir bei meiner Geburt gemeinsam isoliert waren. Vermutlich verbrachten wir einige Zeit damit, auf nichts zu warten, nichts anderes zu tun, als uns unvoreingenommen zu entdecken, ohne jeglichen Argwohn. Ich betrachtete sie über den Nuckel des Babyfläschchens hinweg, das sie zwischen unseren Gesichtern im Gleichgewicht hielt. Bestimmt flüsterte sie mir all ihre Mutterliebe ins Ohr. Und bestimmt vergötterte ich sie mit der absoluten Ausschließlichkeit der allerersten Liebe.
Das erklärt vielleicht, warum ich es nicht geschafft habe, sie hinter mir zu lassen.
Jedenfalls nicht ganz.
Heute schneit es. Von da, wo ich sitze, mitten in meinem Studio, nehme ich draußen nichts anderes wahr als eine weiße Oberfläche und ihr Rauschen, wie vor einem halben Jahrhundert der Fernsehbildschirm zum Sendeschluss.
Ich schaue nie nach draußen, aber die Gegenwart meiner Mutter zwingt mich dazu, automatisch immer wieder den Blick zu heben, als registrierten meine Sinne ein bedrohliches Insekt ganz in der Nähe.
Lange, wenn ich als Kind wie angewachsen vor dem Fernseher hockte, konnte sich meine Mutter nähern, ohne dass ich ihre Anwesenheit bemerkte. Und damit ich in das zurückkehrte, was sie »die Realität« nannte, musste sie meinen Namen drei, vier Mal ungeduldig wiederholen.
Jeden Tag desinfiziere ich meine Maske und meine Arbeitshandschuhe. Dass ich Handschuhe sage, ist reine Gewohnheit, eigentlich sieht das mehr nach ganz dünnen Saugnäpfen aus, die auf meinen Fingerspitzen sitzen. Die ebenso dünne Maske deckt das Sichtfeld ab wie eine Schutzbrille und ist hinter den Ohren fixiert, mit dem Unterschied, dass die beiden Bügel hier für die Übertragung des Tons sorgen. Das Ganze wiegt unter drei Gramm. Wollte ich das Gesicht komplett frei haben, könnte ich auch Verbindungs-Kontaktlinsen tragen; regelmäßig probiere ich aus, was an neuen Modellen auf den Markt kommt, aber ich ertrage nicht den geringsten Fremdkörper auf der Hornhaut.
Jeden Tag pflege ich Gesicht und Hände mit Feuchtigkeitscreme; ich mache Stretching. Ich nehme einen Eiweißriegel mit einem halben Liter Wasser zu mir. Ich vergewissere mich, ob der Boden im Studio sauber ist; ich breite meine Expeditionsmatte darauf aus. Ich ziehe Maske und Handschuhe über.
Dann folgt der Übergang.
Ich betrete die virtuelle Realität, wo ich Anouk wiedertreffe, meinen Avatar, der aus Drahtgitternetz und einem Patchwork fotografischer Texturen in 16K-Auflösung besteht und die ganze Zeit vor mir schwebt. Anouks Haut erscheint wirklicher als meine eigene. Ihr Blick leuchtender. Sie atmet stets gleichmäßig. Tief. In der Grundposition verlagert sie stetig ihren Schwerpunkt mit einer leichten Bewegung des Beckens von einem Fuß auf den anderen. Sie nickt, blinzelt, verschränkt die Hände vor dem Bauch. Dann lässt sie mit einer fließenden, anmutigen Bewegung die verschränkten