Ich (Chris) hatte bereits seit den späten 1970er-Jahren Meditation praktiziert, als ich beschloss, mir eine einjährige Auszeit zu nehmen, um kreuz und quer durch Indien zu reisen, Heilige, Weise, eingeborene Heiler und Meditationsmeister zu besuchen. Ich erlernte auch die Achtsamkeitsmeditation in einer Einsiedelei in Sri Lanka. Danach besuchte ich die Graduate School, promovierte in klinischer Psychologie und schloss mich einer Studiengruppe über Achtsamkeit und Psychotherapie in Cambridge, Massachusetts, an. Aus dieser Studiengruppe ging das Institute for Meditation and Psychotherapy hervor, und wir veröffentlichten schließlich ein populärwissenschaftliches Buch Achtsamkeit in der Psychotherapie (Germer, Siegel und Fulton, 2013), in dem dieses neue Therapiemodell vorgestellt wurde.
Die Veröffentlichung des Buches und das große allgemeine Interesse an Achtsamkeit in der Psychotherapie führten dazu, dass man mich öfter aufforderte, öffentliche Vorträge zu halten – seit jeher eine Quelle der Angst und Panik für mich. Obwohl ich als Erwachsener seit Langem regelmäßig meditierte und hin und wieder in Therapie war, wurde ich weiterhin durch meine lähmende Angst vor öffentlichen Auftritten als Redner beeinträchtigt. Kurz vor jedem Vortrag begann mein Herz zu rasen, meine Hände wurden feucht, und es fiel mir zunehmend schwer, klar zu denken. Ich versuchte wirklich alles, um dieser Angst Herr zu werden: Exposition, Meditation, achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Strategien, Zwerchfellatmung, anstrengende sportliche Betätigung, Betablocker – was Sie wollen –, aber nichts funktionierte.
Als ich einmal bei einem Vortrag in Santa Fe ein paar einleitende Worte sagen wollte, steigerten sich meine Angst und Anspannung derart, dass ein wohlmeinender Zuhörer von einer hinteren Reihe im Vortragssaal rief: »Atmen Sie mal tief durch!« Ich sollte über die positiven Auswirkungen von Achtsamkeit sprechen und brachte kaum ein Wort heraus.
Kurze Zeit später stand ich auf der Liste der Vortragsredner bei einer Konferenz an der Harvard Medical School. Jahrelang hatte ich mich als klinischer Ausbilder in der Fakultät der Medical School im Hintergrund halten können, aber diese Konferenz bedeutete, dass ich vor einer Gruppe von Kollegen stehen und mein peinliches Geheimnis einmal mehr offenbaren musste. Vier Monate vor der Konferenz nahm ich an einem Schweige-Meditationsretreat teil, in dem es keine Möglichkeit gab, meinen Ängsten zu entfliehen. Immer wenn meine Gedanken zu der bevorstehenden Konferenz wanderten, konnte ich spüren, wie mich bei der Vorstellung, mich dort zum Narren zu machen, eine Welle der Angst erfasste. Wie sehr ich mich auch bemühte, die Angst in der Weite des Gewahrseins zu halten – Achtsamkeit –, es half nichts gegen meine inneren Qualen.
Schließlich hatte ich ein Gespräch mit einer sehr erfahrenen Meditationslehrerin, die dieses Retreat gemeinsam mit anderen leitete. Verlegen berichtete ich ihr von meiner Unfähigkeit zu meditieren, aber es war mir immer noch zu peinlich, die ganze Wahrheit über meine innere Not zu offenbaren. Ein freundliches, wissendes Lächeln huschte über ihr Gesicht, und dann machte sie mir einen Vorschlag, der so simpel war, dass es mich fast kränkte, noch nicht selbst darauf gekommen zu sein. Ich erinnere mich nicht mehr genau an ihre Worte, aber sie sagte in etwa Folgendes: »Liebe dich einfach selbst. Wiederhole einfach Sätze der liebevollen Güte wie: ›Möge ich sicher sein. Möge ich glücklich sein. Möge ich gesund sein. Möge ich gelassen sein.‹« Das war’s.
Inzwischen bereit, alles zu versuchen, kehrte ich auf mein Kissen im Meditationsraum zurück und fing sofort an, die Sätze zu wiederholen. Obwohl ich schon so viele Jahre meditierte und als Psychologe über mein Innenleben reflektierte, hatte ich noch nie auf eine so liebevolle, tröstliche Weise mit mir selbst gesprochen. Sofort fühlte ich mich beruhigt. Ich fragte mich sogar, ob ich vielleicht schummelte – Retreats müssen doch hart sein, oder? –, bis ich merkte, dass sich etwas in mir gelöst hatte und ich meinen Atem wieder spüren konnte. Während der Pausen wurde die Welt auf eine ganz neue Weise lebendig. Ich konnte tatsächlich die Menschen um mich herum wahrnehmen und die schöne Umgebung des Retreat-Centers genießen. Es war, als hätte jemand die Tür zu einer anderen Art des Seins geöffnet.
Wieder zu Hause, machte ich liebevolle Güte zu meiner hauptsächlichen Meditationspraxis. Jedes Mal, wenn Angst über die bevorstehende Konferenz aufkam, sagte ich mir einfach diese Sätze der liebevollen Güte – Tag für Tag, Woche für Woche. Ich tat das nicht vorrangig, um mich zu beruhigen, sondern weil ich etwas Trost brauchte (ich hatte schon vor langer Zeit festgestellt, dass der Versuch, mich zu beruhigen, mich nur noch angespannter werden ließ).
Irgendwann aber kam der Tag der Konferenz. Als ich aufs Podium gerufen wurde, um zu sprechen, kam die vertraute Angst in der üblichen Weise hoch. Aber diesmal gab es etwas Neues: ein leises Flüstern im Hintergrund, das sagte: »Mögest du sicher sein, mögest du glücklich sein …« Und als mein Blick über die Menge schweifte, dachte ich: »Oh, mögen alle sicher sein. Mögen alle glücklich sein …« In diesem Moment traten zum ersten Mal Freude und Begeisterung an die Stelle der Angst.
Was geschah in diesem bedeutsamen Augenblick? Vielleicht konnte ich meine Angst vorher nicht akzeptieren und durch mich fließen lassen, weil in Wahrheit ein tieferes Problem dahintersteckte. Vielleicht war meine Angst, vor Publikum zu sprechen, doch keine Angststörung, sondern eine Schamstörung – und die Scham war einfach zu überwältigend, um sie zu ertragen. Immer wenn ich mich in meiner Vorstellung auf dem Podium sah, zitternd und unfähig zu sprechen, war ich grundsätzlich nicht bereit, die Erfahrung der Angst zu akzeptieren, weil die Möglichkeit, von meinen geschätzten Kollegen und Kolleginnen als inkompetent oder als Hochstapler wahrgenommen zu werden, für mich einfach unerträglich war: »Natürlich bin ich ein Schwindler, wenn ich über Achtsamkeit spreche, denn ich habe zu viel Angst zu sprechen!« Aber als ich weiterhin die Liebevolle-Güte-Meditation (LKM; Loving-Kindness Meditation) praktizierte, war es, als sei nun ein guter Freund an meiner Seite, um mich in diesen dunklen Momenten zu unterstützen, ein Freund, der mich auch noch unterstützen würde, wenn alle im Publikum dachten, ich sei ein Narr. Ich hatte angefangen, Selbstmitgefühl zu lernen.
Ich erkannte, dass wir alle manchmal zuerst uns selbst in liebevollem Gewahrsein halten müssen, bevor wir unsere Erfahrung mit der gleichen Einstellung halten können. Hier kommt Mitgefühl in die Achtsamkeitspraxis hinein. Wenn wir von intensiven und verwirrenden Gefühlen überwältigt werden, brauchen wir zusätzliche Unterstützung, um klarsehen und positiv handeln zu können. Als Therapeut wusste ich außerdem intuitiv, wie wichtig Mitgefühl ist. Wenn ein neuer Klient oder eine Klientin zu uns kommt, bieten wir Therapeuten instinktiv Mitgefühl als Basis für das Erforschen des Lebens dieser Person an, und zwar insbesondere der schambesetzten Bereiche. Es ist jedoch eine ganz andere Sache, uns selbst gegenüber mitfühlend zu sein, wenn wir es am dringendsten brauchen. Irgendwie geht diese Einsicht und Fähigkeit oft sogar höchst introspektiven Menschen wie Praktizierenden der Achtsamkeitsmeditation oder Psychotherapeuten und anderen Fachleuten ab.
Nach meiner erhellenden Erkenntnis begann ich das Potenzial eines Selbstmitgefühlstrainings für meine Klienten und Klientinnen auszuloten, insbesondere für diejenigen, die unter Störungen litten, bei denen Scham eine Rolle spielt (»Mit mir stimmt etwas nicht«, »Ich bin ein schlechter Mensch«), wie beispielsweise Sozialphobie, komplexen Traumata, Süchten und Depressionen. Ich schrieb das Buch Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl (Germer, 2009), um das, was ich gelernt hatte, mit anderen zu teilen – vor allem im Hinblick darauf, wie Selbstmitgefühl Klientinnen und Klienten half, die zu mir in die Psychotherapie kamen. Bald darauf veröffentlichte Kristin ihr Buch Selbstmitgefühl (Neff, 2011a), in dem sie die Theorie und Forschung über Selbstmitgefühl beleuchtete, viele Techniken zur Stärkung des Selbstmitgefühls präsentierte und beschrieb, wie sich Selbstmitgefühl in ihrem eigenen Leben auswirkte.
Im Jahr 2010 starteten wir mit unserem ersten MSC-Programm im Fritz-Perls-Haus des Esalen-Instituts in Big Sur, Kalifornien. Wir erinnern uns schmunzelnd daran, dass von den zwölf Gruppenmitgliedern bereits drei am zweiten Tag unseres »Jungfernkurses« abreisten. Vielleicht konnten sie unsere Unsicherheit spüren, vielleicht hatte der Kurs ihnen aber auch emotional zu viel abverlangt. Aber wir blieben dran. Nach einem