Um was für einen Krieg handelte es sich? Warum verhielten sich Griechenlands Gläubiger, als wollten sie ihr Geld nicht zurück? Was veranlasste sie, die Falle aufzustellen, in der sie nun selbst steckten? Das Rätsel lässt sich im Handumdrehen lösen, wenn man sich ansieht, in welchem Zustand sich die französischen und die deutschen Banken nach 2008 befanden.
Griechenlands endemische Unterentwicklung, Korruption und Missmanagement erklären seine chronische wirtschaftliche Schwäche. Aber die Insolvenz hängt mit fundamentalen Fehlern in der Konstruktion der EU und ihrer Währungsunion, dem Euro, zusammen. Die EU begann als ein Kartell großer Unternehmen, das den Wettbewerb in der mitteleuropäischen Schwerindustrie begrenzen und ihr in peripheren Ländern wie Italien und Griechenland Absatzmärkte sichern sollte. Die Defizite von Ländern wie Griechenland waren das Pendant zu den Überschüssen von Ländern wie Deutschland. Solange die Regierung die Drachme abwerten konnte, hielten sich die Defizite in Grenzen. Aber als die Drachme durch den Euro ersetzt wurde, trieben die Kredite von deutschen und französischen Banken das griechische Defizit in die Stratosphäre.
Die Kreditklemme von 2008, die auf den Kollaps der Wall Street folgte, schickte Europas Banken in den Bankrott; 2009 stellten sie die Kreditvergabe ein. Weil Griechenland seine Schulden nicht mehr prolongieren konnte, stürzte es später im Jahr in die Insolvenz. Auf einmal standen drei französische Banken vor Verlusten aus Krediten an die Peripherie, deren Volumen doppelt so groß war wie das französische BIP. Zahlen von der Bank of International Settlement zeigen ein wirklich furchterregendes Bild: Für jeweils 30 Euro Risiko stand nur ein Euro Deckung zur Verfügung. Das bedeutete, wenn nur 3 Prozent der riskanten Kredite ausfielen – wenn 106 Milliarden Euro aus Krediten, die sie Staaten, Unternehmen und Haushalten der Peripherie gewährt hatten, nicht zurückgezahlt werden konnten –, mussten die drei wichtigsten französischen Banken vom Staat gerettet werden.
Allein die Kredite eben dieser drei Banken an Italien, Spanien und Portugal summierten sich auf 34 Prozent des gesamten französischen BIP – 627 Milliarden Euro, um präzise zu sein. Außerdem hatten diese Banken in den zurückliegenden Jahren auch noch dem griechischen Staat bis zu 102 Milliarden Euro geliehen. Wenn Griechenland seine Raten nicht begleichen konnte, würden Finanzleute weltweit Angst bekommen und Portugal kein Geld mehr geben, möglicherweise auch Italien und Spanien nicht mehr, weil sie fürchteten, dass sie als Nächste in Rückstand geraten könnten. Wenn Italien, Spanien und Portugal ihre zusammengenommen 1,76 Billionen Euro Schulden nicht mehr zu akzeptablen Zinssätzen refinanzieren konnten, würden sie massiv bedrängt werden, die Kredite der drei führenden französischen Banken zu bedienen, was tiefe schwarze Löcher in ihre Bilanzen reißen würde. Über Nacht würden Frankreichs größte Banken 19 Prozent ihrer »Aktiva« verlieren, wobei schon ein Verlust in Höhe von 3 Prozent sie insolvent machen würde.
Um das Loch zu stopfen, würde der französische Staat über Nacht schlappe 562 Milliarden Euro aufbringen müssen. Aber während die Bundesregierung der Vereinigten Staaten solche Verluste auf ihre Zentralbank (die Federal Reserve) abschieben kann, hatte Frankreich seine Zentralbank im Jahr 2000, als es der gemeinsamen Währung beigetreten war, abgeschafft. Seitdem war das Land auf den guten Willen der gemeinsamen Zentralbank Europas angewiesen, der EZB. Leider hatte man der EZB ein ausdrückliches Verbot in die Wiege gelegt: Schulden der Südländer, private wie staatliche, dürfen nicht in die Bücher der EZB verschoben werden. Punkt. Nur unter dieser Bedingung hatte Deutschland seine geliebte D-Mark mit dem Pöbel Europas geteilt, unter dem neuen Namen Euro.
Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, welche Panik Frankreichs Präsident Sarkozy und seine Finanzministerin Christine Lagarde erfasste, als sie erkannten, dass sie womöglich bis zu 562 Milliarden Euro aus dem Hut zaubern mussten. Und es ist nicht schwer, sich die Angst eines Vorgängers von Christine Lagarde auszumalen, des berüchtigten Dominique Strauss-Kahn, der zu der Zeit an der Spitze des IWF stand und entschlossen war, aus dieser Position seinen Wahlkampf für die nächste französische Präsidentschaftswahl zwei Jahre später zu führen. Frankreichs Spitzenbeamte wussten, dass ein Bankrott Griechenlands den französischen Staat zwingen würde, sich sechs Mal so viel Geld zu leihen, wie er jährlich an Steuern einnahm, nur um sie diesen idiotischen drei Banken hinzuwerfen.
Es war einfach unmöglich. Hätten die Märkte Wind davon bekommen, was da drohte, wären die Zinsen für die französischen Staatsschulden in die Stratosphäre geschossen, und innerhalb von Sekunden wären 1,29 Billionen Euro französische Staatsschulden ausgefallen. In einem Land, das keine Notenpresse mehr hatte – die letzte verbleibende Möglichkeit, um aus dem Nichts Geld zu schöpfen –, würde das Not und Elend bedeuten, und das würde wiederum die gesamte Europäische Union zu Fall bringen, die gemeinsame Währung, einfach alles.
Die deutsche Kanzlerin steckte unterdessen nicht weniger in der Zwickmühle. 2008, als die Banken der Wall Street und der City of London wankten, pflegte Angela Merkel noch immer ihr Image als knausrige, finanziell sehr vorsichtige eiserne Kanzlerin. Auf die verschwenderischen Banker der Anglosphäre zeigte sie moralisierend mit dem Finger, und sie machte Schlagzeilen mit einer Rede in Stuttgart, in der sie sagte, die amerikanischen Banker hätten sich bei einer schwäbischen Hausfrau Rat holen sollen, sie hätte ihnen einiges über den Umgang mit Geld erzählen können. Man stelle sich ihr Entsetzen vor, als sie wenig später lauter aufgeregte Telefonanrufe von ihrem Finanzminister, ihrer Zentralbank und ihren Wirtschaftsberatern erhielt, alle mit der gleichen unfassbaren Botschaft: »Frau Bundeskanzlerin, auch unsere Banken sind bankrott! Damit ihre Geldautomaten weiter Geld ausspucken, brauchen wir eine Geldspritze in Höhe von 406 Milliarden Euro von den schwäbischen Hausfrauen – möglichst gestern!«
Das war der Inbegriff von politischem Gift. Wie konnte sie vor dieselben Abgeordneten treten, denen sie jahrelang Vorträge über die Tugend des Sparens gehalten hatte, wenn es um Krankenhäuser, Schulen, Infrastruktur, soziale Sicherheit, die Umwelt gegangen war, und sie nun inständig bitten, einen derart gewaltigen Scheck für Banker zu unterschreiben, die noch Sekunden zuvor in Geld geschwommen waren? Aber Not kennt nun einmal kein Gebot, und so atmete Kanzlerin Merkel tief durch, ging in den nach einem Entwurf von Norman Foster umgebauten Reichstag mit der berühmten Kuppel, überbrachte den sprachlosen Parlamentariern die schlechte Nachricht und verließ das Gebäude wieder mit dem erbetenen Scheck in der Hand. Geschafft, dürfte sie gedacht haben. Nur dass es nicht geschafft war. Wenige Monate später glühten die Telefone wieder: Dieselben Banken brauchten noch einmal die gleiche Summe.
Warum brauchten die Deutsche Bank, die Commerzbank und andere Türme der finanziellen Inkompetenz mit Sitz in Frankfurt mehr Geld? Weil der Scheck über 406 Milliarden Euro, den sie 2009 von Frau Merkel bekommen hatten, kaum ausreichte, um ihre Geschäfte mit toxischen amerikanischen Derivaten zu decken. Und ganz gewiss reichte er nicht aus für all das Geld, das sie den Regierungen von Italien, Irland, Portugal, Spanien und Griechenland geliehen hatten – insgesamt 477 Milliarden Euro, von denen happige 102 Milliarden nach Athen geflossen waren. Wenn Griechenland seinen Rückzahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen könnte,3 standen die deutschen Banken vor einem weiteren Verlust, der einen neuen Scheck von Frau Merkel in einer Höhe zwischen 340 und 406 Milliarden Euro erforderlich machen würde. Als erfahrene Politikerin wusste sie, dass es politischer Selbstmord wäre, vom Bundestag noch einmal eine solche Summe zu verlangen.
Für die politisch Verantwortlichen von Frankreich und Deutschland ging es um eine Billion Euro. Sie durften der griechischen Regierung nicht erlauben, die Wahrheit zu sagen, nämlich zuzugeben, dass Griechenland bankrott war. Und sie mussten weiterhin einen Weg finden, um ihre Banken ein zweites Mal zu retten, ohne ihren Parlamenten zu sagen, dass sie genau das taten. Wie Jean-Claude Juncker, damals Premierminister von Luxemburg und später Präsident der Europäischen Kommission, es einmal formuliert hat: »Wenn es ernst wird,