Die ganze Geschichte. Yanis Varoufakis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Yanis Varoufakis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная деловая литература
Год издания: 0
isbn: 9783956142185
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die das Leben von Millionen Menschen beeinflusst haben.

      VORWORT

      Mein voriges Buch, Das Euro-Paradox, bot eine historische Erklärung, warum Europa nun, Jahrzehnte nach seiner Gründung, dabei ist, seine Integrität zu verlieren und seine Seele zu verwirken. Als ich an den letzten Seiten arbeitete, im Januar 2015, wurde ich Finanzminister von Griechenland und fand mich im Innersten jenes Ungeheuers wieder, über das ich eben noch geschrieben hatte. Als Finanzminister eines chronisch verschuldeten europäischen Mitgliedstaats, der sich zu dem Zeitpunkt in einer heftigen Auseinandersetzung mit seinen Gläubigern – Europas mächtigsten Staaten und Institutionen – befand, lernte ich unmittelbar die besonderen Umstände und Gründe kennen, warum unser Kontinent in einem Morast versank, aus dem er womöglich lange nicht mehr herauskommen wird.

      Das vorliegende Buch erzählt diese Geschichte. Man könnte es als die Geschichte eines Wissenschaftlers lesen, der eine Weile Minister war und dann zum Whistleblower wurde. Oder als persönlichen Enthüllungsbericht, in dem berühmte Personen wie Angela Merkel, Mario Draghi, Wolfgang Schäuble, Christine Lagarde, Emmanuel Macron, George Osborne und Barack Obama figurieren. Oder als die Geschichte eines kleinen, bankrotten Landes, das es mit den europäischen Goliaths aufnimmt, um aus dem Schuldgefängnis herauszukommen, und dann eine krachende, wenn auch einigermaßen ehrenhafte Niederlage erleidet. Aber keine dieser Beschreibungen spiegelt meine wahre Motivation wider, dieses Buch zu schreiben.

      Kurz nach der gnadenlosen Niederschlagung der griechischen Rebellion von 2015, auch bekannt als griechischer Frühling oder Athener Frühling, verlor in Spanien die linke Partei Podemos an Schwung; zweifellos fürchteten viele potenzielle Wähler, eine wütende EU könnte ihnen ein ähnliches Schicksal bereiten wie uns. Viele Anhänger der Labour Party in Großbritannien stimmten unter dem Eindruck der kaltschnäuzigen Missachtung der Demokratie, die die EU gegenüber Griechenland an den Tag gelegt hatte, für den Brexit. Der Brexit wiederum gab Donald Trump Auftrieb. Sein Triumph lenkte frischen Wind in die Segel fremdenfeindlicher Nationalisten in ganz Europa und der Welt. Wladimir Putin dürfte sich angesichts des Schauspiels der sagenhaften Selbstdemontage des Westens ungläubig die Augen reiben.

      Die Geschichte in diesem Buch steht nicht nur symbolisch für den Weg, den Europa, Großbritannien und die Vereinigten Staaten eingeschlagen haben; sie bietet auch reale Einsichten, wie und warum unsere Staatswesen und sozialen Ordnungen zerbrochen sind. Während das sogenannte liberale Establishment gegen die Fake News der rebellierenden »alternativen Rechten« protestiert, ist es heilsam, sich daran zu erinnern, dass 2015 eben dieses Establishment eine schrecklich effiziente Verleumdungs- und Rufmordkampagne gegen die proeuropäische, demokratisch gewählte Regierung eines kleines Landes in Europa startete.

      Ich hoffe zwar, dass derartige Einsichten nützlich sind, doch mein Antrieb, dieses Buch zu schreiben, hat noch tiefere Gründe. Hinter den einzelnen Ereignissen, deren Zeuge ich wurde, erkannte ich eine universelle Geschichte – die Geschichte, was passiert, wenn Menschen sich grausamen Umständen ausgeliefert sehen, die ein inhumanes, überwiegend unsichtbares Netzwerk von Machtbeziehungen hervorgebracht hat. Deshalb gibt es in diesem Buch nicht »die Guten« und »die Bösen«. Vielmehr ist es von Menschen bevölkert, die ihr Bestes tun – oder das, was sie dafür halten – unter Bedingungen, die sie sich nicht ausgesucht haben. Jede einzelne Person, die ich getroffen habe und über die ich hier schreibe, glaubte, sie würde sachgerecht handeln, aber gemeinsam brachten sie mit ihrem Tun Unglück über einen ganzen Kontinent. Ist das nicht Stoff für eine echte Tragödie? Haben nicht genau darum die Tragödien von Sophokles und Shakespeare uns heute noch etwas zu sagen, viele hundert Jahre nach den Ereignissen, auf die sie sich beziehen?

      Irgendwann bemerkte Christine Lagarde, die geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds, im Zustand der Verzweiflung, um das Drama zu lösen, bräuchten wir »Erwachsene im Raum«. Sie hatte recht. In vielen der Räume, in denen sich dieses Drama entfaltete, fehlte es an Erwachsenen. Dem Charakter nach fielen die Beteiligten in zwei Kategorien: die Unbedeutenden und die Faszinierenden. Die Unbedeutenden liefen herum und kreuzten Kästchen auf den Blättern mit den Anweisungen an, die sie von ihren Herren und Meistern bekommen hatten. In vielen Fällen waren ihre Meister – Politiker wie Wolfgang Schäuble und Funktionäre wie Christine Lagarde und Mario Draghi – anders. Sie besaßen die Fähigkeit, über sich selbst und ihre Rolle in dem Drama zu reflektieren, und weil sie in der Lage waren, einen Dialog mit sich selbst zu führen, gingen sie so faszinierend leicht in die Falle sich selbst erfüllender Prophezeiungen.

      Griechenlands Gläubiger am Werk zu beobachten war tatsächlich so, als würde man zusehen, wie sich im Land des Ödipus eine Version von Macbeth entfaltet. Genau wie Ödipus’ Vater, König Laios von Theben, unwissentlich seine Ermordung selbst herbeiführt, weil er an die Prophezeiung glaubt, dass sein Sohn ihn umbringen werde, führten die klügsten und mächtigsten Akteure in diesem Drama ihren eigenen Untergang aus Angst vor der Prophezeiung herbei, die ihn vorausgesagt hatte. Griechenlands Gläubiger waren sich sehr genau bewusst, wie leicht ihnen die Macht entgleiten konnte, und wurden oft von Unsicherheit geradezu überwältigt. Weil sie fürchteten, Griechenlands unausgesprochener Bankrott könnte zur Folge haben, dass sie die politische Kontrolle über Europa verloren, zwangen sie dem Land Maßnahmen auf, die nach und nach ihre politische Kontrolle nicht nur über Griechenland, sondern über Europa aushöhlten.

      An einem bestimmten Punkt, als sie wie Macbeth spürten, dass ihre Macht sich in unerträgliche Machtlosigkeit verwandelte, fühlten sie sich gedrängt, auf schlimmstmögliche Weise zu handeln. In solchen Augenblicken hörte ich sie beinahe sagen:

      Ich stieg ins Blut

      So tief, daß mir, wollt ich nicht mehr drin baden,

      Rückkehrn so schwer wär wie hindurchzuwaten.

      Hab Seltsames im Kopf, was drängt zur Hand,

      Und muß getan sein, eh’s recht Prüfung fand.

      Macbeth, Dritter Akt, 4. Szene

      Wenn einer der Beteiligten über ein mörderisches Drama wie dieses berichtet, können Parteilichkeit und der Wunsch nach Rechtfertigung nicht ausbleiben. Ich bemühe mich, so fair und unparteilich wie möglich zu sein, ihre Handlungsweise und meine mit den Augen einer Person aus einer echten alten griechischen oder shakespeareschen Tragödie zu sehen, in der die Charaktere weder gut noch böse sind, sondern von den unbeabsichtigten Folgen ihrer Vorstellung, was sie tun sollten, überwältigt werden. Ich vermute, dass ich bei Menschen, die ich faszinierend fand, damit erfolgreicher war als bei solchen, deren Bedeutungslosigkeit meine Sinne abstumpfte. Es fällt mir schwer, mich dafür zu entschuldigen, nicht zuletzt, weil es der Genauigkeit dieses Berichts Abbruch tun würde, wenn ich sie anders darstellen würde.

TEIL EINS

      KAPITEL 1

      Einführung

      Den einzigen Farbklecks in der schummrigen Hotelbar lieferte die bernsteinfarbene Flüssigkeit, die in dem Glas vor ihm schimmerte. Als ich näher trat, hob er den Blick und begrüßte mich mit einem Kopfnicken, bevor er sich wieder seinem Whiskyglas zuwandte. Erschöpft ließ ich mich auf das dick gepolsterte Sofa fallen. Wie aufs Stichwort erklang imponierend düster seine vertraute Stimme:

      »Yanis, du hast einen schweren Fehler gemacht.«

      Spät in einer Frühlingsnacht legt sich eine Sanftmut über Washington D.C., die tagsüber unvorstellbar ist. Wenn die Politiker, die Lobbyisten und die Hofschranzen verschwunden sind, verfliegt alle Spannung. In den Bars verlieren sich die wenigen Menschen, die nicht schon wieder früh am Morgen auf den Beinen sein müssen, und die noch weniger zahlreichen, die ihre Probleme nicht schlafen lassen. In dieser Nacht wie in den einundachtzig Nächten davor und tatsächlich auch den einundachtzig Nächten danach gehörte ich zu Letzteren.

      In die Dunkelheit gehüllt, war ich eine Viertelstunde von Nr. 700 19th Street N.W., dem Sitz des Internationalen Währungsfonds, zu der Hotelbar gegangen, wo ich ihn treffen sollte. Ich hätte mir nie vorstellen