Zum Buch
Naomi ist erst 14, hat aber schon mehr Enttäuschungen und Stress erlebt als die meisten Erwachsenen je erleben werden. Ihr Vater säuft, ihre Mutter hat sich umgebracht. Jetzt kommt sie schon wieder in eine neue Pflegefamilie. Die Goldings. Haben schon zwei Pflegekinder, ist doch immer dasselbe. Doch diesmal kommt alles anders: Colleen und Tony Golding sind schwarz und eigentlich ziemlich cool für Pflegeeltern. Sharyna und Pablo, ihre neuen Geschwister, sind sogar mehr als okay. Nur mit Kim und Nats, ihren Freundinnen, läuft es irgendwie nicht mehr ganz so gut, und langsam muss sich Naomi die Frage stellen, ob sie ihnen noch vertrauen kann. »Home Girl« erzählt von einer Jugend im Fürsorgesystem, von tiefen Verletzungen und enttäuschten Hoffnungen, von gerechter Wut und schlechten Entscheidungen, von Rassismus und verfehlter Politik, von falschen Freunden und davon, wie Fremde zu Familie werden und, trotz allem, nach Heim über Heim, ein Zuhause entstehen könnte.
Über den Autor
Alex Wheatle wurde 1963 in Brixton geboren und wuchs größtenteils in einem Kinderheim auf. Mit 16 gründete er ein Reggae Soundsystem und trat unter dem Namen Yardman Irie auf. Während der Brixton Riots wurde er verhaftet und verbrachte einige Zeit im Gefängnis, wo er seine Liebe zur Literatur entdeckte. Er hat mehrere von der Kritik gefeierte Romane veröffentlicht, bevor er sich der Jugendliteratur zuwandte. Er lebt mit seiner Familie in London.
Von Alex Wheatle erschienen bisher im Verlag Antje Kunstmann Liccle Bit. Der Kleine aus Crongton (2018), Die Ritter von Crongton (2018) und Wer braucht ein Herz, wenn es gebrochen werden kann (2019).
ALEX WHEATLE
HOME GIRL
ROMAN
Aus dem Englischen von Conny Lösch
Verlag Antje Kunstmann
Für alle Kinder, die in Heimen oder Pflegefamilien leben oder gelebt haben
1
PLATZWECHSEL
»Das ist ein Perverser!«, schrie ich. Ich schnallte mich an und stellte dabei einen Grime-Sender im Radio ein. Ich wusste, sie hasste das. »Wieso glaubst du mir nicht?«
Louise sah mich an, als wollte sie mir eine runterhauen. Durfte sie aber nicht. Sie war meine Sozialarbeiterin. Und hatte Probleme, den Wagen anzulassen. Ihre Hände zitterten. »Er sagt, er hat nur mit deinem Handtuch vor dem Badezimmer gestanden«, sagte sie.
»Jedes Mal, wenn ich ins Bad bin, stand er da pädophil rum«, fauchte ich. »Ob ich mein Shampoo hab? Ist auch genug Schaum in der Wanne? Hab ich die Seife? Glaubt der, ich bin zu blöd, meine Sachen mit ins Bad zu nehmen? Ich sag dir, das ist ein Perverser mit großem Pimmel-P!«
Endlich ließ Louise den Motor an. Schnappte nervös nach Luft. Das machte sie immer, wenn ich in ihrer klapperdürren Anwesenheit Schimpfwörter benutzte. »Er … er sagt, er wollte dir nur helfen«, stammelte sie.
»Sperr die Ohren auf, Louise! Der hilft mir nicht. Ich weiß schon, auf was für einer Mission der sich befindet. Ich kann meinen Kram selbst mit ins Badezimmer nehmen.«
Louise ließ ihre Scheibe runter und zündete sich eine Kippe an.
Sie zog dran, als wollte sie das Ding in einem einzigen Zug killen. Sie schaute auf die Straße. Eine Getto-Tusse im schwarzen Hoodie führte einen Pitbull Gassi. Louise fuhr los. Wir waren im Osten von Ashburton, wo sogar die Köter erst mal argwöhnisch über die Schulter schauen, bevor sie um eine Ecke biegen. Ich sah zu, wie Louise ihren Qualm zum Fenster raus paffte. Ihre Stirnfalten sagten, dass sie jetzt am liebsten zu Hause wäre, Rotwein versenken und Bridget-Jones-Filme gucken würde. Sie verzog das Gesicht.
»Kann ich auch eine?«, fragte ich.
»Nein!«
»Wieso nicht? Du weißt doch eh, dass ich rauche.«
»Solange ich dabei bin, rauchst du nicht.«
»Du darfst eigentlich auch gar nicht mit mir in der Karre qualmen.«
Louise zog noch mal an ihrem Krebslutscher. Dann blies sie wieder Qualm aus dem Fenster und machte das Ding aus. Die übrige Hälfte legte sie ins Handschuhfach.
Zu meinen Füßen lag mein lädiertes Kuschelerdmännchen. Der Mund war eingerissen und dadurch breiter, an der linken Pfote fehlte eine Kralle, und ein Auge hing lockerer als das andere. Ich nahm es und legte es mir in den Schoß, streichelte es zweimal und lächelte es an.
Erinnerungen.
Dann warf ich Louise einen bösen Blick zu. Lily Allen rauschte mit Smile aus dem Autoradio. Kein Bass. Louise drehte leiser. Ich drehte wieder lauter, lauter als vorher. Louise wusste, dass sie das Spiel verlieren würde. Sie bedachte mich mit einem von ihren echt-jetzt-Blicken und schüttelte den Kopf.
»Wo bringst du mich hin?«, fragte ich.
»Weiß ich noch nicht.«
»Das weißt du nicht? Der Käsemond zeigt schon seine Löcher! Schöne Sozialarbeiterin bist du.«
»Hilft uns nicht weiter, wenn du überall, wo ich dich unterbringe, die kleine Miss Madam spielst. Mir gehen allmählich die Alternativen aus.«
»Ist nicht meine Schuld, dass du mich immer nur zu Freaks und Fummlern schickst.«
»Die Holmans in Ashburton nehmen seit über zwanzig Jahren Pflegekinder bei sich auf. Sie sind sehr zuverlässig. Niemand hat sich je über sie beschwert … bis heute Abend.«
»Die anderen hatten wahrscheinlich bloß zu viel Schiss, um was zu sagen«, meinte ich. »Die Alte wollte mich ständig umarmen. Was soll das? Andauernd hat sie sich mit ihrem ›Willkommen bei X-Factor‹-Lächeln vor mir aufgebaut.«
Ein Bild von meiner Mum platzte unaufgefordert in meinen Schädel. Ich erinnerte mich an ihr Lächeln. Ich versuchte es zu löschen, ging aber nicht. »Ist alles in Ordnung, Naomi?«, äffte ich meine Pflegemutter nach. »Heilige Affenscheiße! Irgendwann hab ich aufgehört mitzuzählen, wie oft sie mich das gefragt hat. Ich hab Haarausfall davon bekommen. Und dann er! Kim hat mich vor hinterhältigen Männern wie dem gewarnt. Alles, was du möchtest, Naomi, mein Schatz. Frag einfach. Ich weiß, was der wollte. Wäre er mir näher gekommen, hätte ich ihm das größte ›Einfahrt verboten‹-Schild aller Zeiten über den Schädel gezogen.«
»Bist du sicher, Naomi?«, fragte Louise. »Die beiden wollten nur nett sein. Und ich hab dir schon mal gesagt, hör nicht auf alles, was Kim sagt.«
Selbst jetzt glaubte mir Louise noch nicht. Die hatte nicht mehr alle Klöße im Gulasch. Was musste ich tun, damit diese Frau das Offensichtliche begriff?
»Neulich hab ich wieder Titanic geguckt«, sagte ich. »Ich muss immer heulen bei der Szene, wo Leo im Meer versinkt. Da kommt sie zu mir und umarmt mich, als hätte ich sie als Ersatzmutter gebucht. Ich hab ihr gesagt, sollte sie noch mal meine Komfortzone verschmutzen, brat ich ihr ne Pfanne über, sobald sie schläft. Wenn ich fertig mit der bin, hört sie die Vögel noch zwitschern, wenn sie sich am nächsten Tag die Krampfadern ziehen lässt. Ich sag dir, Louise, die gehören in die Klapse.«
Louise schwieg. Vielleicht hatte die Wahrheit ja endlich mal eine empfindsame Stelle bei ihr getroffen.
»Ich hab Hunger«, sagte ich. Das war nicht gelogen. Mein Magen knurrte. »Wo fährst du mit mir hin? Ich will nicht zum Alabama Chicken Cottage oder in die Mississippi Hen Hut. Bei denen schmecken die Hühner ranzig.«
Louise antwortete nicht. Sie hielt den Blick auf die Straße gerichtet. Zehn Minuten später bog sie auf den Parkplatz vom McD an der Ashburton Ring Road. Sie zog fünf Pfund aus ihrem Portemonnaie. Ich befreite sie davon, nahm mein Erdmännchen und war weg, bevor Louise auch nur das N von Naomi rausbrachte. Am Eingang vom McD drehte ich mich noch mal um. Louise schüttelte den Kopf, nahm ihr Handy aus der Tasche und gab eine Nummer ein. Sie fischte ihre halb gerauchte Kippe wieder aus dem Handschuhfach, zündete sie an und schaute aus dem Fenster.