Aber alles sehr nützlich und praktisch.
And yet, and yet …
Die durch neurowissenschaftliche Forschung immer genauer nachgewiesene Unfreiheit des Menschen und aller anderen Naturwesen ist eines der Steckenpferde des Historikers Yuval Harari, der nun konsequenterweise in geschichtlichen Abläufen die eine lückenlose Wirkung deterministischer Gesetze sehen müßte, die der Geschichte im großen wie im kleinen ihre wechselnde Gestalt aufprägen müßten (zumindest müßte der Historiker versuchen, dies zu tun). Wir glauben frei zu handeln, aber tatsächlich sind wir in jedem Augenblick nur ein Spielball innerer und äußerer Zwänge. Deshalb wäre es besser, so Harari ironisch (?), uns gleich von Algorithmen lenken zu lassen, die uns aufgrund ihrer in Windeseile durchgeführten Berechnungen klar und deutlich sagen können, was gut für uns ist und was nicht, bei Einkäufen genauso wie bei politischen Wahlen, auf der Partner- wie auf der Finanzbörse. Algorithmen, digitale Filter, sogenannte Feeds sind im Grunde genommen Identitätsmaschinen, die immer das Selbe – das Identische – wiederholen und Abwandlungen nur in kleinster Dosierung zulassen. Zu befürchten steht, daß auch bei solchen Lebensprogrammen nur der statistische Konservativismus zum Tragen kommt und die ewige Wiederholung des Gleichen promoviert wird, nicht etwa offene Lebensmodelle, wie einige Soziologen der Spätmoderne unterstellen. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß wir vollständig vernetzt sind und der Algorithmus auf eine dementsprechend große Zahl von Daten zugreifen kann; bei politischen Wahlen müßte der Rechner z. B. vorhersagen können, wie sich das Klima in den nächsten fünfzig Jahren entwickeln wird. Aber egal, auf alle Fälle geht der Algorithmus geschickter, eilfertiger und letztlich klüger mit den Daten um als wir selbst. Beim handelnden oder sich leiten lassenden menschlichen Subjekt wird die Erkenntnis der Unfreiheit zusammen mit der eingeschliffenen Erwartung, das Smartphone wisse ohnehin alles besser, und anderen Faktoren – wie Wohlstand, lückenloses, ermüdendes Erziehungssystem, regelmäßige Evaluierung, Stress permanenter Leistungsnachweise – die Trägheit weiter verstärken und zementieren. Nein, wir müssen uns unseres Verstandes nicht mehr bedienen: Das ist schlicht und einfach nicht notwendig für eine adäquate Lebensgestaltung.
Gleichzeitig verkümmert die Bereitschaft innezuhalten, jedes Stocken wird unverständlich, wo man doch „surfen“ kann, also weitergleiten; die Fähigkeit, um sich zu blicken oder Kehrtwendungen zu machen, geht verloren, es wird undenkbar, etwas in Frage zu stellen, wo die Antworten auf alle Fragen im Maschinchen oder, noch hübscher, in einer Wolke gespeichert sind. Wohlgemerkt, Trägheit ist nicht Untätigkeit, sondern Getriebensein, Sich-gehen-Lassen, Mit-sichmachen-Lassen. Die japanischen Selbstmordpiloten im Pazifischen Krieg waren keine Helden, sondern Opfer des Systems, dem sie sich gedankenlos unterordneten. Heute würden sich die jungen Leute genauso wie damals in den Tod schicken lassen, von menschlichen oder maschinellen oder hybriden Systemen beordert, die „das Beste“ herausgefunden haben. Es braucht dazu keine Ideologie. Das Beste für wen oder was? Für das Gemeinwohl, die volonté générale? Das Vaterland? Den ewigen Frieden? Für nichts, für das System? Bloß keine Fragen? Aber das wird nicht geschehen, jedenfalls nicht in massenhaftem Ausmaß, weil die reichen, technologisch entwickelten Länder bei ihren humanen Kriegen ohnehin nicht mehr aufs „Volk“ zurückgreifen, sondern auf Elitetruppen, die Algorithmen und Roboter bedienen und in weitgehend selbststeuernden Systemen selbst wie Roboter funktionieren. Auch das erfahren wir aus dem dicken Buch über den Gott, der nun nicht mehr der Mensch ist, sondern die Maschine. Kriege sind heutzutage weder völkisch noch demokratisch, sondern technologisch und elitär. Der Frieden ist es, der vom KK-Prinzip lebt. Nur eine Handvoll Terroristen will das nicht einsehen.
So vieles geschieht gleichzeitig, wenn unser Bewußtsein tätig ist: Wir erinnern uns an dies oder jenes, denken nach, halten inne, stellen etwas in Frage, versuchen etwas zu verstehen, haben eine Assoziation, wehren sie ab oder lassen sie zu, und bei allem, an jeder Stelle der Bewußtseinsreise, fühlen wir, ärgern oder freuen uns, sind traurig, skeptisch, verwirrt, erschüttert, ergriffen, beruhigt … James Joyce hat versucht, solche Vorgänge in ihrer Komplexität sprachlich festzuhalten, was bei allem Aufwand stets nur bedingt möglich ist, weil das, was sich wirklich abspielt, reicher und vielschichtiger ist als die Semantik jeglicher Sprache (dabei rede ich noch gar nicht vom dunklen Unterbewußtsein, das ins helle Bewußtsein ständig hineinfunkt) … Ein unsicheres, unklares Bild, mit dem auch die Neurologie nur dann zurandekommt, wenn sie einzelne Schichten und Stränge herausisoliert. Wir wissen nicht, was dieser Geist eigentlich ist, und wissen, sofern wir nicht gar zu träge sind und überhaupt etwas wissen wollen, doch recht gut, daß ständig alle möglichen Dinge passieren in unserem meist nicht ganz kühlen Kopf, und wissen auch oder glauben zu wissen, was das im Großen und Ganzen ungefähr ist. Daß der Verstand disparate Sinneswahrnehmungen als Treibstoff gebraucht und sich unweigerlich Gefühle hinzugesellen, und daß sich Gedanken selten vollständig von Empfindungen lösen lassen, gehört zu den stillschweigenden Annahmen Hararis. Künstliche Intelligenz ist sauber, ist nicht durch derlei Begleiterscheinungen, schräge Verbindungen und undurchdringliche Knoten verunreinigt. Das ist ihr Vorteil – und ihre Schwäche.
Auch wenn Algorithmen mit solchen subjektiven Faktoren arbeiten und Kommunikationsplattformen wie Facebook auf Gefühle abzielen und diese zu erfassen, zu klassifizieren, zu systematisieren und zu kontrollieren versuchen, so gelingt dies bisher doch nur sehr unzureichend, auf primitive Weise, wenn man die FB-Fiction etwa mit den Figurendarstellungen eines Romans vergleicht. Man muß sich sogar fragen, ob die Mission von Unternehmen wie Facebook, Instagram und Konsorten nicht darin besteht, menschliches Denken und Fühlen grundsätzlich zu primitivieren, d. h. zu standardisieren und zu reduzieren (während sich die Programme selbst optimieren und spezialisieren, die Kategorien sich multiplizieren, das Arsenal der Emojis, der Gefühlszeichen, anwächst), was dann zur massenhaften Konditionierung von Handlungen und kommunikativen Äußerungen bzw. Selbstdarstellungen führt, weil die Muster als normal, normativ und menschlich ausgegeben und von Analytikern (bzw. Algorithmen) als solche analysiert werden, ohne daß an den Input auch nur ein Gedanke verschwendet wird. Man lese sich in diesem Licht noch einmal die grotesken Beispiele durch, die Harari von Partnersuche und Selbstoptimierung mittels algorithmischer Berechnungen gibt. Wir leben bereits in der schönen neuen Welt: Die Menschen haben sich an sie angepaßt, sie wollen mitmachen, wollen nicht außen vor bleiben. Beim Buchtitel von Aldous Huxley konnte man sicher sein, daß zumindest das erste Epitheton ironisch gemeint war.
Gefühl