Beim ersten Mal flog ich, ich flog hinaus, höher, schneller, weiter, soweit meine zarten Flügel mich nur trugen. Ich spürte den Wind in den Federn und war so aufgeregt. Jeder meiner Atemzüge fühlte sich plötzlich so echt an, so gewaltig und so ganz anders als in meinem Käfig. Ich flog so hoch, meine Federn waren nicht mehr grau, sie leuchteten blau im Sonnenlicht, funkelten grün, wenn der Wind sie berührte, und hinterließen einen roten Schweif, je höher ich aufstieg. Das war das Glück in seiner reinsten Form. Doch ich wusste es nicht besser und flog zu hoch, ich stieß an den Himmel, verbrannte mir meine Federn an der Sonne und fiel schnell und tief zu Boden. Als ich aufwachte, saß ich wieder in meinem Käfig. Die Tür war geschlossen. Ich war abgemagert, ich hatte Schmerzen und es war, als wäre ein Teil von mir gestorben. Nun wusste ich einmal, wie es außerhalb meines Käfigs war und das konnte mir niemand mehr nehmen. Doch da war ich, gefangen!
Ich wusste nicht, wie lange es wieder dauern würde und ob es überhaupt noch einmal passierte bis sich meine Tür wieder öffnet. Ich wartete zwei Jahre, bis sich die Tür eines Tages aus dem nichts erneut öffnete. Wieder ergriff ich schnell meine Chance, doch der Schmerz vom letzten Mal saß tief, deswegen war ich ängstlicher. Wieder spürte ich den Wind, roch die frische Luft und atmete! Ich atmete, als wäre nur dies das einzig richtige Leben, atmete schnell und konnte nicht genug davon bekommen. Doch ich sah mich nicht genau vor und kollidierte mit etwas. Wieder sank ich schnell und wie ein Stein zu Boden, ich wachte auf und befand mich erneut in diesem Käfig!
Es war ein Stück von mir zerbrochen, wieder hatte ich Federn verloren und die Tür war geschlossen. Doch nun wusste ich nicht nur, wie es draußen ist, sondern auch, dass es wiederholt passierte und deswegen sicherlich wieder passieren wird. Mein Leben im Käfig wurde dadurch zumindest ein bisschen aufregender, denn nun wartete ich immer mit einem nervösen Kribbeln im Bauch darauf und war voller Spannung. Häufig hing ich meinen Gedanken an diese wunderschöne Freiheit nach. Aber mir kam auch der Gedanke: War ich vorher glücklicher, als ich diese Freiheit noch nicht kannte? Als ich weniger sehnsüchtig war und noch dachte, jeder Tag sei gleich? Jetzt bin ich jeden Tag, an dem sich diese Tür nicht öffnet, ungeduldig, wütend, deprimiert und traurig. Ich musste also das Beste aus meiner Situation machen. Ich nahm die Scheuklappen von den Augen. Ich sah andere Vögel, vielleicht geben sie mir das Gefühl, welches zumindest vergleichbar mit dem Gefühl der Freiheit sein würde, dachte ich. Mein Leben zog an mir vorbei, während ich auf die Freiheit wartete, deswegen beschloss ich, es zu wagen. Ich zwitscherte mit anderen um die Wette, ich plusterte mein Federkleid auf, ich tat alles das, was die anderen taten. Jedoch immer mit dem Unterschied, dass sie, im Gegensatz zu mir, dieses Gefühl des unendlichen Fliegens und Atmens nicht kannten. Also passte ich mich an, um dieses unbeschreibliche Gefühl wieder vergessen zu können. Ein paar der anderen Vögel wurden zum Mittelpunkt für mich, sie gaben mir Halt und Unterstützung, machten mein Leben lebendiger, bunter, fröhlicher und lauter. Vergessen konnte ich dieses Gefühl jedoch keinen einzigen Tag so richtig, es verblasste nur leicht, doch dieses Kribbeln hielt an.
Ich musste dieses Mal nur ein Jahr warten, bis sich die Tür erneut öffnete. Mein Herz schlug wie wild. Und wieder hinaus, schneller, weiter, höher, doch immer mit einer gewissen Vorsicht, mich nicht nochmals zu verletzen. Schnell wurden mir jedoch die Flügel schwer und starr. Ich glänzte in allen Farben und blühte auf, doch stellte gleichzeitig fest, wie schwer diese Freiheit, die mir geschenkt wurde, war. Ich konnte sie nicht regulieren, nicht mit ihr in Maßen umgehen, und dennoch liebte ich sie! Ich liebte sie tief und rein. Doch plötzlich wurde alles schwarz!
Als ich meine Augen quälend öffnete, war ich eingesperrt in meinem Käfig!
Meine Augen standen voller Tränen und ich sah nur verschwommen. Ich wollte gar nicht mehr richtig sehen und nicht aufs Neue damit konfrontiert werden, dass ich mich wieder in meinem Käfig befand, doch ich war mir dessen voll und ganz bewusst. Wiederholt von vorne anfangen, abermals mein Leben aufbauen, mit ein paar Federn weniger und wieder um die Freiheit trauernd. Ich musste diesen großen Verlust nun schon ein drittes Mal erleben. Jedes Mal ging ich mehr kaputt, verlor aufs Neue meine Farbe und meinen Glanz und wurde zu dem tristen, grauen, kleinen Vögelchen. „Also auf ein Neues!“, sagte ich mir immer selbst. Was hatte ich schon für eine andere Wahl? So umgaben mich erneut wichtige Wegbegleiter und Ereignisse, die ich mit anderen meiner Art verbrachte. Es verblassten die tiefen Wunden, die mir das Gefühl, das ich doch eigentlich so liebte, zugefügt hatte. Doch vergessen ging nicht, drei lange Jahre.
Da schien dieses helle Licht der Sonne in meinen Käfig und der Windhauch fuhr durch mein Federkleid. Nun ging ich nur langsam hinaus, blickte diesmal sogar noch einmal zurück in mein Zuhause, bevor ich erneut meine Flügel ausbreitete. Ich riss mich zusammen, ich wollte dieses Gefühl diesmal besser „portionieren“, traute mich nicht einmal, zu lächeln, obwohl es im Bauch wieder kribbelte. Ich wagte die tiefen Atemzüge diesmal nur sehr langsam und war ängstlich wie nie zuvor. Ich blickte in jede Himmelsrichtung und wog jedes Hindernis genau ab, bevor ich mir zutraute, es zu überfliegen, aber trotzdem hatte mich die Freiheit wieder voll im Griff. So lang wie dieses Mal konnte ich sie vorher nie genießen, offensichtlich war also Vorsicht genau das Richtige, aber auch diese Taktik brachte mich letztendlich nicht ans Ziel. Ich spürte einen heftigen Schlag. Es gab keine Möglichkeit, einzuschätzen, ob der Schlag von oben kam oder ob es zeitgleich auch schon mein Aufprall auf den Boden war. Ich glaube, nun ist einer meiner Flügel letztlich ganz gebrochen, dachte ich noch so für mich, als ich mich schon ganz plötzlich wieder in meinem Käfig vorfand. In mir breitete sich ein dumpfes, tiefes und dunkles Gefühl aus, es umhüllte mich voll und ganz, es übermannte mich und ich konnte und wollte nicht mehr kämpfen und gab mich dem Gefühl hin.
Es dauerte nun noch sehr viel länger, bis ich aus meinem Sumpf, aus meinem Loch, in das ich innerlich fiel,, wieder herauskam. Immer wieder aufs Neue beschäftigte mich die Frage, warum meine Käfigtür sich öffnete und die der anderen verschlossen blieb. Warum landete ich jedes Mal aufs Neue in meinem Käfig? Warum musste mir so etwas passieren? Ich hasste teilweise dieses Gefühl, verfluchte den Tag, an dem ich es kennenlernen durfte und vermisste es zur gleichen Zeit. Liebte mich die Freiheit nicht? Warum überlegte es sich die Freiheit bloß jedes Mal wieder anders? Diese Fragen bohrten Löcher durch mein Herz und zerschmetterten mein Hirn. Sehr lange Zeit war ich deshalb für nichts mehr offen und für nichts zu gebrauchen. Wie kann einem etwas nur so guttun und zu gleichen Teilen so zerstören? Es war mir unklar! Ich zog mich zurück. Ich hatte einfach keine Lust mehr! Ich dachte mir: „Da bleibe ich doch lieber in meinem Käfig.“ Auch wenn ich es hier ebenfalls nie ganz leicht hatte mit all den anderen bunten, schönen Vögeln, die mir haushoch überlegen waren und ich mich hier und da auch mal stieß, so hatte ich dies doch wenigstens besser im Griff, als in der Freiheit. Doch die Freiheit schien diesmal mich zu vermissen, denn obwohl meine Wunden vom letzten Mal noch nicht verheilt waren, ging die Tür doch tatsächlich ein weiteres Mal auf, und zwar sehr schnell und unsanft. Als ob mir die Tür sagen wollte „Nun mach schon! Mach, dass du rauskommst!“
Dieses energische, weckte meinen Kampfgeist. „Nein!“, dachte ich, „das muss doch mal zu schaffen sein“, immerhin muss es etwas bedeuten, wenn die Freiheit immer wieder nur bei mir anklopft. Also raus, hoch, weit, in Maßen genießen, umsehen, atmen, ausbreiten, Sonne und Wind spüren, gesunde Zweifel hegen, vorsichtig herantasten, pure Freude empfinden, lieben.
Um dann erneut getroffen zu werden, tief zu fallen, hart aufzukommen, Schmerzen zu haben, ganz unten zu versinken, Federn zu verlieren, im Käfig zu hocken, sich mit anderen abzulenken, sanft die Wunden zu lecken, schmerzlich an schöne Erinnerungen zu denken.
So ging das wieder und wieder, ich weiß nicht wie oft. Ich ärgerte mich nur noch über mich selbst und darüber, dass ich überhaupt noch hinausflog, anstatt im sicheren Käfig zu bleiben. Vielleicht ist sie das ja auch, die Freiheit? Vielleicht tut sie jedem so weh? So kam es, dass ich zu einem Vogel wurde, dessen Blick von anderen immer als traurig oder auch als böse angesehen wurde. Dies machte es den anderen geradezu unmöglich, mich noch zu erreichen. Ich wurde diszipliniert, streng und wertend. Ich gab mich zeitweise mit Vögeln ab, die mir eigentlich nicht guttaten. Ich suchte bewusst andere auf, von denen mir mein Gefühl abriet. Ich strafte mich mit