Das unsichtbare Netz des Lebens. Martin Grassberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Grassberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Математика
Год издания: 0
isbn: 9783701746675
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Systeme zu übertragen. Dass es sich aber in vielen Fällen schlussendlich doch gänzlich anders verhält als in der Theorie, zeigen uns die lebensweltlichen Alltagserfahrungen. Sie erfüllen zwar mangels Systematik nicht immer die Forderungen nach Objektivität und Wiederholbarkeit, müssen aber gewissermaßen als subjektive Realität ebenfalls zur Kenntnis genommen werden.

      Wird etwa einem schmerzgeplagten Patienten vom behandelnden Arzt eindringlich mitgeteilt, es gäbe nach allen Untersuchungen nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaften keine physiologisch oder anatomisch fassbaren Ursachen für seine Schmerzen und er sollte daher eigentlich schmerzfrei sein, so ändert das nichts an der subjektiven Tatsache, dass der Patient gegebenenfalls immer noch an seinen Schmerzen leidet. Der Fehler liegt in der vereinfachten und nicht zulässigen Annahme, wir wüssten bereits alles über Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung. »Wir finden nichts«, ist nicht das Gleiche wie »Sie haben nichts«.

      Auch die in den Lebenswissenschaften alles beherrschende Genetik ist, entgegen den Behauptungen vieler sogenannter »Experten«, alles andere als eine bis in alle Einzelheiten verstandene und zu jedem Zeitpunkt beherrschbare Wissenschaft. Wer behauptet, dass die Freisetzung genetisch manipulierter Pflanzen oder die Manipulation von Erbsubstanz im Allgemeinen (z. B. durch die vielversprechende CRISPR / Cas9-Technologie) »mit Sicherheit keinerlei Gefahren« mit sich bringe, hat die komplexen Eigenschaften der Lebensmoleküle DNA und RNA noch nicht verstanden. Diese Aussage des Verfassers dieser Zeilen, der gewiss kein grundsätzlicher Gegner moderner molekularbiologischer Methoden ist, ist keineswegs fortschrittsfeindlich, sondern fußt in ebendiesen Erkenntnissen der modernen molekulargenetischen Wissenschaft.8

      Die wissenschaftlich generierten Erkenntnisse müssen aber frei von finanziellen Interessen, krankhaften Ideologien und dem Geltungsbedürfnis Einzelner offen diskutiert werden. Letztendlich ist das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft von absoluter Transparenz und offener Diskussion abhängig.

      Der bekannte US-amerikanische Evolutionsbiologe, Genetiker, Mathematiker und streitbare Vordenker Richard Lewontin schrieb im Vorwort seines Buches »Biology as Ideology: The doctrine of DNA« über die Wissenschaft im Allgemeinen:

      »Eine einfache und dramatische Theorie, die alles erklärt, sorgt für eine gute Presse, gutes Radio, gutes Fernsehen und Buch-Bestseller. Jeder mit akademischer Autorität, einem halbwegs anständigen Schreibstil und einer einfachen und kraftvollen Idee hat einen leichten Zugang zum öffentlichen Bewusstsein.

      Wenn aber die Botschaft lautet, dass die Dinge kompliziert, unsicher und chaotisch sind, dass keine einfache Regel oder Kraft die Vergangenheit erklären und die Zukunft der menschlichen Existenz vorhersagen kann, gibt es erheblich weniger Möglichkeiten, diese Botschaft zu vermitteln. Differenzierte Behauptungen über die Komplexität des Lebens und unsere Unkenntnis seiner Determinanten eignen sich nicht für das Showbusiness

      Das, liebe Leser, ist Kritik von einem Biologen, der seine Polemik durch ein beachtliches Lebenswerk hoch angesehener Forschung untermauern kann. Die differenzierte Vermittlung der komplexen Lebensrealität eignet sich nun einmal nicht für sensationelle Überschriften in unserer schnellen Medienwelt mit zunehmend kürzer werdender Aufmerksamkeitsspanne des Durchschnittskonsumenten. Auch einfache Antworten auf all unsere Fragen hinsichtlich Gesundheit, Krankheit und das Leben im Allgemeinen werden angesichts dieser Komplexität nicht ohne Weiteres möglich sein.

      Wir werden aber dennoch sehen, dass trotz dieser unglaublichen Komplexität die Lösung für viele unserer großen Probleme »prinzipiell« ziemlich einfach wäre, ja geradezu auf der Hand liegt. Die Antworten finden wir vor allem durch Beobachtung der natürlichen Prozesse aller lebenden Ökosysteme und ihrer Bewohner.

       Der Fehlschluss des »naturalistischen Fehlschlusses«

      Bevor ich mit meinen Ausführungen ins Detail gehe, möchte ich noch ein paar wesentliche Punkte ansprechen und versuchen, diese zu klären, um wenig fruchtbringende Diskussionen von vornherein zu minimieren bzw. um ein paar Ausgangspunkte zu definieren, welche gewissermaßen als gemeinsame Diskussionsbasis dienen sollen.

      Allzu gerne greifen sich manche – von tief verwurzelten »Wahrheiten« und undifferenziertem Fortschrittsglauben getriebene – »Kritiker« einzelne, zum Teil aus Platzmangel nur unscharf erläuterte Punkte heraus, um auf Basis ihrer Kritik zu ebendiesen Punkten dem Gesamtwerk oder gar dem Verfasser jegliche Redlichkeit und wissenschaftliche Qualifikation abzusprechen. Gerade Letzteres erfreut sich in unserer Zeit, erleichtert durch soziale Netzwerke und die damit verbundene Anonymität oder durch mehr oder weniger objektive, aber ebenso anonyme Wikipedia-Einträge, immer größerer Beliebtheit. Die durch derartige, auf Neusprech »Trolle« genannten, Unruhestifter verbreiteten Halbwahrheiten, einseitigen Sichtweisen und ad personam-Anfeindungen stellen ein ernst zu nehmendes Problem für eine demokratisch organisierte Gesellschaft, ihre Freiheit zur differenzierten Meinungsäußerung und damit schlussendlich unsere Zukunft dar.

      Nachdem ich in meinem letzten Buch darlegte, warum synthetische Pestizide als überwiegend negativ für die menschliche Gesundheit und die Biodiversität von Ökosystemen zu bewerten sind, löste das offenbar bei einem (der erstaunlicherweise wenigen) Kritiker eine aggressive und undifferenzierte Hasstirade aus. Dieser Kritiker fühlte sich bemüßigt, mir jegliche Wissenschaftlichkeit angesichts dieser Behauptung abzusprechen, mich des »naturalistischen Fehlschlusses« zu bezichtigen und verstieg sich sogar dazu, seine emotionalen Ergüsse der Jury für das Wissenschaftsbuch des Jahres mitzuteilen, welches ebendieses Buch kurz zuvor als Wissenschaftsbuch des Jahres würdigte.

      Der Vorwurf lautete, ich säße dem, wie er es nannte, »naturalistischen Fehlschluss« auf, dass alles, was aus der Natur komme, gut sein müsse, wohingegen alles, was künstlich wäre, schlecht und giftig sein müsse. Meine negative Einschätzung von Pestiziden und überhaupt das gesamte Buch seien fortschritts- und wissenschaftsfeindlich. Das, obwohl das Buch gänzlich auf den neuesten wissenschaftlichen Ergebnissen fußte und mit unzähligen Verweisen zu den einschlägigen Studien versehen ist. Ich war zunächst beinahe sprachlos. Bin ich tatsächlich irgendeinem »naturalistischen Fehlschluss« unterlegen?

      Der auf den englischen Philosophen George Edward Moore (1873–1958) und sein Werk »Principia ethica« zurückgehende Begriff des naturalistischen Fehlschlusses (auch »Sein-Sollen-Fehlschluss« genannt) spricht im Grunde ein wissenschaftsethisches bzw. philosophisches Problem an, nämlich den irrtümlichen Versuch, nur aus der »Natur« der Dinge abzuleiten, wie diese sein sollten, und ihnen damit einen moralischen Wert zu unterstellen. Das ist dann doch etwas ganz anderes und zeigt, wie es um das wissenschaftstheoretische Verständnis derartiger Kritiker bestellt ist. Bei ausführlicher Beschäftigung mit den Aussagen manch selbst ernannter »Skeptiker« drängt sich einem das Bild von einer unerschütterlichen Fortschrittsgläubigkeit auf, das alles Althergebrachte, Bewährte und auf menschlichen Erfahrungen Beruhende ablehnt, selbst wenn diese den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen.

      Da es im vorliegenden Buch in weiten Teilen wieder um neueste Erkenntnisse und Fortschritte (!) aus dem Bereich der Lebenswissenschaften, allen voran der Biologie und Medizin, geht, möchte ich an dieser Stelle noch ein paar Worte zu dem von mir lieber als »naturalistische Fehlannahmen« bezeichneten und tatsächlich weitverbreiteten Phänomen verlieren.

      In der Tat verhält es sich so, dass viele Menschen, vor allem Laien, aber auch durchaus naturwissenschaftlich geprägte Akademiker, basierend auf einer gewissen Idealvorstellung von der »Natur«, der Fehlannahme aufsitzen, alles, was aus der Natur käme, sei gut und erstrebenswert, hingegen alles »Künstliche«, insbesondere Errungenschaften unseres Fortschrittes, wie chemisch-pharmazeutische Verbindungen, seien schlecht und daher rigoros abzulehnen. Diese Ansicht wurde mir auch immer wieder in Gesprächen mit Patienten vermittelt, die als überzeugte Anhänger von Naturheilverfahren und Alternativmedizin jegliche »schulmedizinische« Intervention ablehnten. Diese Sichtweise und die zugrunde liegende Argumentation ist zwar subjektiv in vielen Fällen verständlich, kann aber, was die Gesundheit betrifft, durchaus problematisch sein, fußen sie doch häufig auf eklatanten Fehlannahmen und einer simplen wie dichotomen