Angst ist der wahre Schmerz!
Julia, 14 Jahre
In der medizinischen und neuropsychologischen Grundlagenforschung gilt es mittlerweile als gesichert, dass chronischer Schmerz ein gelerntes Verhalten ist – also ein in Körper und Geist abgespeichertes Programm, das erst mit einer richtiggehenden Schmerztherapie wieder überschrieben werden kann und muss. Es gab verschiedene Versuche, mit Hilfe von hoch dosierten Schmerzmedikamenten dieses gespeicherte Programm zu überschreiben. Letztlich blieb aber die Erkenntnis, dass selbst eine intensivierte medikamentöse Schmerztherapie keine dauerhafte Verringerung chronischer Schmerzen bewirkt. Viele Kinder, die unsere Hilfe aufsuchen, haben diesen Weg bereits erfolglos beschritten. Ohne eine aktive Veränderung des Denkens, Fühlens und Verhaltens kann man nicht erwarten, dass sich an den Schmerzen langfristig etwas verändern wird.
Schmerzen lernen und verlernen
Wie oben bereits angedeutet, kann unser Gehirn nicht nur Schmerzen wahrnehmen, sondern es lernt auch bei jeder Schmerzerfahrung hinzu. Die positiven Ergebnisse dieser Lernprozesse sind, dass wir in neuen Situationen schneller reagieren und Gefahren besser einschätzen können. Das ist überlebenswichtig, damit wir z. B. beim Anblick einer heißen Herdplatte oder eines scharfen Messers aufgrund unserer schmerzhaften Erfahrungen entsprechend vorsichtiger handeln. Was natürlich nur klappt, wenn unser Gehirn gespeichert hat, wie unangenehm diese Schmerzen waren – wenn es sie also »gelernt« hat. Das kennen wir alle. Jeder von uns kann eine Erinnerung an die Schmerzen hervorrufen, die er z. B. bei einem Unfall hatte. Oder unser Gehirn lernt, dass bestimmte Bewegungen Schmerzen auslösen, und wir werden in Zukunft aus Angst gerade diese Bewegungen versuchen zu vermeiden. Gelingt uns dies nicht, ist das Schmerzempfinden umso stärker.
Wir Menschen sind also durchaus in der Lage, auch diese Teile unseres Gedächtnisses zu benutzen. Verständlicherweise tun wir das nicht wirklich häufig, wir wollen ja nicht absichtlich Schmerzen lernen. Was umgekehrt bedeutet, dass wir dann natürlich auch nicht wissen, wie wir Schmerz wieder verlernen können.
Phänomen Phantomschmerz
Leider ist unser Schmerzgedächtnis anfällig für Fehler. Ein Beispiel für solch eine Fehlleistung kommt aus der Forschung zu Phantomschmerzen. Patienten, denen z. B. ein Bein amputiert wurde, berichteten auch nach der Operation über Schmerzen an dem – allerdings nicht mehr vorhandenen – Körperteil. Lange Zeit dachte man, dass diese Menschen »verrückt« seien. Aber dank neuerer Technik konnte man diesen Phantomschmerzen auf die Schliche kommen. »Schuld« daran sind deutlich empfindlichere (sensibilisierte) Schmerznervenbahnen sowie das Schmerzgedächtnis in unserem Schmerznetzwerk. Zum einen waren die Nerven, die die Schmerzsignale weiterleiteten, mit der Zeit sensibler geworden, zum anderen hatte jener Teil des Schmerznetzwerks, der für das Bein zuständig war, mit der Zeit gelernt, dass das Bein weh tat. Und dabei blieb er, auch als das Bein gar nicht mehr da war.
Das bedeutet: In unserem Schmerznetzwerk können Schmerzen entstehen, obwohl die eigentliche körperliche Ursache schon lange nicht mehr vorliegt.
Die folgenden beiden Bilder zeigen Querschnittaufnahmen eines Gehirns. Die leuchtenden, umkreisten Bereiche markieren Aktivitäten unseres Schmerznetzwerks. Je größer der Bereich, desto aktiver ist das Schmerznetzwerk. Bei Abbildung 2 konzentriert sich die Person auf einen über Hitze herbeigeführten akuten Schmerzreiz, bei Abbildung 3 denkt die Person bei demselben Schmerzreiz an schöne Erinnerungen, um sich abzulenken. Wie man sehen kann, führt allein die Ablenkung bei einem akuten, zu 100 Prozent organisch erklärbaren Schmerzsignal dazu, dass die wahrgenommene Schmerzstärke sich mehr als halbiert.
Andere Studien, z. B. mit erwachsenen Rückenschmerzpatienten, zeigen, dass sich bei ihnen die Bereiche im Schmerznetzwerk, die mit dem Rücken verknüpft sind, vergrößert haben. Es hat also mit der Zeit eine mess- und sichtbare Veränderung des Gehirns stattgefunden, die dafür sorgt, dass Schmerzen »besser« und intensiver wahrgenommen werden. Allerdings gehen solche Veränderungen über viele Jahre vor sich. Es ist nicht davon auszugehen, dass solch drastische Veränderungen bereits im Kindesoder Jugendalter messbar sind. Des Weiteren ist es beruhigend zu wissen, dass Kinder und Jugendliche viel schneller als Erwachsene lernen und deswegen auch Schmerzen besser verlernen können. Dafür braucht ein Kind in den meisten Fällen die Unterstützung seiner Familie. Wenn jedoch trotz aller Versuche des Kindes, sich abzulenken, ständig auf seine Schmerzen Rücksicht genommen wird oder diese häufig thematisiert werden, muss man sich nicht wundern, wenn die Schmerzen mit der Zeit schlimmer werden. Dieser Zusammenhang gilt übrigens immer, selbst für chronische Schmerzen im Rahmen einer langwierigen entzündlichen Erkrankung.
Abbildung 2: Aktivierung des Schmerznetzwerks bei Konzentration auf den Schmerz
Aktivierung des Schmerznetzwerks, wenn man an etwas Schönes denkt
Übrigens erklären wir in dem oben genannten Film (siehe S. 27) auch, wie das Schmerzgedächtnis funktioniert und wie Schmerzen gelernt und wieder verlernt werden können.
Angst als Verstärker
Die Langzeiterfahrung von Schmerz trägt zur Gedächtnisbildung im Schmerznetzwerk des Gehirns bei. Es kommt aber noch mehr hinzu. Neueste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass für die Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses die Angst (z. B. vor den Schmerzen) mindestens genauso entscheidend ist wie der Schmerz selbst. Das ist kein Wunder, sondern logisch: Können wir uns noch an Dinge erinnern, die vor drei Tagen passiert sind, uns aber völlig egal waren? Wohl eher nicht. Dagegen prägen sich uns allen (hoffentlich) jene Dinge ein, über die wir uns gefreut haben, z. B. den letzten Urlaub. Wir können uns auch nach Jahren noch gut an Auslöser erinnern, vor denen wir große Angst hatten oder noch haben. Diese Erinnerungen sind meist so stark, dass wir sie nie wirklich vergessen. Und dieser Mechanismus funktioniert natürlich auch bestens, wenn Schmerz im Spiel ist. Zwei Beispiele aus unserer Praxis sollen diesen Zusammenhang verdeutlichen.
Rita, 13 Jahre
Rita knallte bei einem Auffahrunfall mit dem Kopf gegen den Vordersitz. Es tat so weh, dass sie dachte, es sei bestimmt etwas in ihrem Kopf kaputt gegangen. Ihr Bruder war aufgrund des Aufpralls kurz bewusstlos und sie hatte große Angst, dass ihr Bruder tot sein könnte. In dem nachfolgenden Durcheinander musste die Mutter beim Auto bleiben, während der Notarzt die beiden Kinder mit in die Klinik nahm. Keiner redete mit dem Mädchen, erst viele Stunden später wurde Rita von ihren Eltern darüber aufgeklärt, dass alles in Ordnung sei.
Obwohl die Ärzte Rita mehrfach versicherten, sie habe keine schlimmen Verletzungen, riefen ruckartige Kopfbewegungen sowie der Anblick von Autos verstärkte Kopfschmerzen bei ihr hervor. In der Folge vermied Rita zunehmend bestimmte Kopfbewegungen. Zudem achtete sie mehr auf die Schmerzen, da sie insgeheim befürchtete, dass doch etwas in ihrem Kopf kaputt gegangen sei. Nach einem Jahr waren die Schmerzen so stark geworden, dass ein stationärer kinderschmerztherapeutischer Aufenthalt unumgänglich wurde. Erst als sie lernte, sich ihren Ängsten zu stellen, den Schmerz aktiv zu beeinflussen und anfing zu begreifen, dass ihr Kopf gesund war, gingen die Schmerzen langsam zurück, bis sie eines Tages keine Dauerschmerzen mehr hatte.
Bei diesem Beispiel haben wir es mit einer unglücklichen Verkettung von Umständen zu tun, bei denen Angst und Schmerz eine gemeinsame Ursache haben. Aber erst die Angst führte dazu, dass die schmerzbezogenen Erfahrungen immer wieder neu erinnert und somit zunehmend besser gelernt wurden.
Ein zweites Beispiel soll das Gefühlsleben von Julia verdeutlichen, die unter einer nicht behandelten kindlichen Migräne litt. Die damit einhergehende Angst vor Schmerzen führte zu einer erhöhten Aufmerksamkeit, die sich auf den eigenen Körper richtete, und schließlich zu einem gelernten Dauerschmerz.