Studer fragte aufs Geratewohl:
»Gäbig, he? Wenn man eine Freundin hat, die einem einen teuren Füllfederhalter schenkt?«
Einen Augenblick blieb der schaumige Pinsel über seiner Wange hängen. Studer betrachtete die Hand, die den Pinsel hielt. Sie zitterte. Also stimmte etwas nicht. Aber was? Studer sah im Spiegel das Gesicht des Jünglings. Es war käsig. Die allzu roten Lippen waren geschürzt und ließen die oberen Zähne sehen, die bräunlich und schadhaft waren. Hatte sich Sonja in diesen Ladenschwengel verliebt? Da war doch der Schlumpf ein anderer Bursch, trotz seiner Vergangenheit, trotz seiner Verzweiflung gestern… Gestern? War das erst gestern gewesen? – Da hing einer am Fensterkreuz, da schrie einer in der Zelle, in der noch die Kälte des Winters hockte – und draußen vor den Fenstern sang eine Kleinmädchenstimme:
»Allewil, allewil blib i dir treu…«
Sanft strich der Pinsel wieder über Studers Wangen.
– Ob er ihn denn so erschreckt habe, fragte Studer den käsigen Jüngling. Der schüttelte den Kopf. Studer beruhigte ihn weiter. Da sei doch weiter nichts dabei, wenn man von einer Freundin ein Geschenk erhalte. Obwohl es ihn immerhin merkwürdig dünke, daß ein Mädchen, das Löcher in den Strümpfen habe, so teure Füllfederhalter verschenken könne…
– Der Füllfederhalter sei eine Erbschaft vom Vater… ja eine Erbschaft.
Die Stimme des Jünglings war heiser, so, als ob Mund, Zunge, Rachen ausgedörrt seien.
In der Ecke schnatterte der Lautsprecher – und plötzlich gab es Studer einen Ruck. Was der Mann irgendwo, ganz fern, am Mikrophon erzählte, ging auch ihn an. Der Jüngling, der abwesend mit dem Pinsel in dem Becken gerührt hatte, stellte seine Tätigkeit ein und verharrte reglos.
Besonders eindringlich sagte die ferne Stimme:
»Bevor wir unser Mittagskonzert fortsetzen, habe ich Ihnen noch eine kurze Mitteilung der kantonalen Polizeidirektion Bern zu machen: Seit gestern abend wird Herr Jean Cottereau, Obergärtner in den Baumschulen Ellenberger, Gerzenstein, vermißt. Es scheint sich um eine brutale Entführung zu handeln, deren Hintergründe bis jetzt noch nicht aufgehellt sind. Der Vermißte kehrte gestern abend in Begleitung seines Meisters, Herrn Ellenberger, mit dem Zehn-Uhr-Zug von Bern heim. Gerade als beide in den Feldweg einbiegen wollten, der außerhalb des Dorfes Gerzenstein liegt, wurden sie von einem Auto mit gelöschten Lichtern von hinten angefahren. Herr Gottlieb Ellenberger fiel mit dem Kopfe gegen einen Randstein und erlitt eine leichte Gehirnerschütterung. Als er aus einer kurzen Ohnmacht erwachte, sah er, daß sein Begleiter, Herr Jean Cottereau, verschwunden war. Von dem Auto war keine Spur zu entdecken. Trotz heftiger Kopfschmerzen begab sich Herr Ellenberger auf den Posten der Kantonspolizei. Die mit Hilfe des Landjägerkorporals Murmann und einiger Einwohner durchgeführte Streife in die Umgebung des Dorfes verlief resultatlos. Bis jetzt ist von dem Vermißten keine Spur zu entdecken gewesen. Das Signalement des Vermißten gibt die Kantonspolizei wie folgt an:
Größe 1 Meter 60, korpulent, rotes Gesicht, spärliche Haare, schwarzer Anzug… Sachdienliche Mitteilungen sind zu richten…«
Der Jüngling machte einige schleichende Schritte. Ein Knax. Die Stimme verstummte. Dann kam der Jüngling zurück. Das Klappen des Messers auf dem Abziehholz war deutlich zu hören.
»Geht's Messer?« fragte er, als er eine Wange rasiert hatte.
Studer brummte.
Dann wieder Schweigen.
Der Jüngling war fertig, Studer wusch sich über dem Becken.
»Stein?« fragte der Jüngling und drückte rhythmisch auf die Gummiblase eines Zerstäubers.
»Nein«, sagte Studer. »Puder.«
Sonst wurde nichts gesprochen.
Beim Fortgehen bemerkte Studer auf einem Tischchen im Hintergrunde einen Stapel broschierter Bändchen. Er sah sich den Titel des obersten an.
›John Klings Erinnerungen‹, stand darauf. Darunter:
›Das Geheimnis der roten Fledermaus.‹
Studer grinste unter seinem Schnurrbart, als er den Laden verließ.
Läden, Lautsprecher, Landjäger
»Dieses Gerzenstein!« murmelte Studer. An jedem Haus war ein Schild angebracht, rechts und links der Straße: Metzgerei, Bäckerei, Lebensmittelgeschäft, Ablage des Konsumvereins; Migros; dazwischen eine Wirtschaft, dann noch eine: Zum Klösterli, Zur Traube. Dann weiter: Metzgerei, Drogerie, Tabak und Zigarren; ein großes Schild: Kapelle der apostolischen Gemeinschaft. Dahinter, in einem Garten: Heilsarmee. Eine schmale Wiese unterbrach die Reihe. Aber gleich darauf begann es wieder: Apotheke, Drogerie, Bäckerei. Ein Arztschild: Dr. med. Eduard Neuenschwander. – So, so, der Mann, der die erste oberflächliche Untersuchung der Leiche gemacht hatte… Dann endlich, Studer dachte schon, er habe den Weg verfehlt, sah er ein breites, behäbiges Haus, aus grauem Stein erbaut, mit einem ausladenden Dach: den Gasthof zum ›Bären‹.
Der Wachtmeister verlangte ein Zimmer und bekam eine Mansarde unterm Dach. Sie war sauber, roch nach Holz, das Fenster ging nach hinten auf eine Wiese, die überzogen war von weißem, blühendem Schaum. Nach der Wiese kam ein Roggenfeld von zart violetter Farbe. Und der Wald als Abschluß zeigte auf einem schwarzen Tannengrund die hellen grünen Flecke einiger Laubbäume. Diese Farben gefielen Studer ausnehmend. Er blieb ein paar Minuten am Fenster stehen, packte seinen Koffer aus, wusch sich die Hände und stieg wieder die Treppen hinunter. Er sagte der Kellnerin, er werde etwa in einer halben Stunde zum Essen kommen. Dann machte er sich auf die Suche nach dem Landjägerposten.
Und als er die Dorfstraße entlangging, vorbei an den vielen Schildern, die sich folgten, fiel ihm eine zweite Eigentümlichkeit dieses Gerzensteins auf. Aus jedem Hause drang Musik: manchmal unangenehm laut aus einem geöffneten Fenster, manchmal dumpfer, wenn die Fenster geschlossen waren.
»Gerzenstein, das Dorf der Läden und Lautsprecher«, murmelte Studer, und es war ihm, als sei mit diesen Worten ein Teil der Atmosphäre des Dorfes charakterisiert…
Landjägerkorporal Murmann sah aus wie ein pensionierter Schwingerkönig. Sein Uniformrock stand offen, auch das Hemd klaffte und ließ eine Brust sehen, auf der die Haare dichter wucherten als auf dem Kopf.
»Salü«, sagte Studer.
»Eh, der Studer!« Und ob er noch immer Billard spiele? Er solle abhocken. Dann erhob Murmann die Stimme zu einem tosenden Ruf, mit langgezogenem I-Laut, und der Ruf galt Frau Murmann – aber es war nicht deutlich, ob die Frau Emmy oder Anny hieß. Das blieb sich ja auch im Grunde gleich.
»Wyße oder Rote?« fragte Murmann.
»Bier«, sagte Studer kurz.
Der tosende Ruf erhob sich zum zweiten Male, und zwei I-Laute hallten durchs Haus. Es kam auch Antwort, und der Ruf der Antwort war genau so tosend. Nur eine Tonlage höher. Dann erschien Frau Murmann in der Tür, und sie sah aus wie eine Statue der Helvetia aus den achtziger Jahren. Nur das Gesicht war viel, viel intelligenter als jenes besagter Statue. Von patriotischen Bildnissen wird ja auch keine Intelligenz verlangt. Wozu auch?
Ob sie den Studer noch kenne, wollte der Schwingerkönig wissen, und die intelligente Helvetia nickte. Dann erkundigte sie sich, ob Studer schon gegessen habe. Er habe im ›Bären‹ zu Mittag bestellt, erwiderte der Wachtmeister, worauf die beiden großen Menschen zusammen böse wurden. Das sei nicht recht, es sei doch selbstverständlich, daß Studer hier esse – gegen das dröhnende Duett war nicht aufzukommen. Glücklicherweise begann im oberen Stockwerk eine dritte Stimme zu kreischen, worauf sich Frau Murmann – hieß sie Emmy oder Anny? – empfahl. Studer mußte versprechen, zum Nachtessen ganz bestimmt zu kommen.
»Ja hmm«, sagte Studer, trank sein Glas aus, seufzte: »Ahh« und schwieg.
»Ja«, sagte Murmann, trank sein Glas aus, gluckste, bekam Tränen in die Augen von der Kohlensäure, und dann schwieg auch er…
Es