Vergnügungssucht, dachte der Spielleiter Boggs unter der Wolke über dem Glasdach der Selig Polyscope. Meist ging er zu Fuß zur Arbeit. Die Migräne baute Zacken in die Luft, Burgen, Schießscharten. Mr. Golden schrie »gestorben, gestorben«, sein Kameramann verbeugte sich fast, ein Fräulein vom Schnitt lief zum Schneideraum, es galoppierte mit wehendem Haar vor lauter Beflissenheit, und Francis Boggs, der Enkelsohn des sechsten Gouverneurs von Missouri und mit siebenunddreißig Jahren Jungspielleiter bei Selig, bekam wieder dieses Gefühl, das die Migräne oft mit sich brachte, dieses flaue Gefühl nicht eingelöster Versprechen.
Gut zwanzig Jahre war er über die Bretter gehetzt, Winterbühnen, Wanderbühnen, Freiluftbühnen, Bühnen in Scheunen, auf abgeernteten Feldern, schlecht gezimmerte Bühnen mit Zwergen und Clowns und Madame Butterfly und Hoochie-Coochie und mit Mr. Boggs, Enkel von Lilburn dem Mormonenschlächter und Urgroßenkel von Daniel Boone, dem Daniel Boone, der Kentucky entdeckt hat! Merken Sie auf, wertes Publikum. Seien Sie stolz, ihn sehen zu dürfen. Come all ye sons of freedom. Und am Schluss immer Mitsingen für alle.
Du hast Pioniersblut, hatte Vater gesagt, sei tüchtig, sei nützlich, sei hurtig, und ehe er sich’s versah, war Francis auf und davon und fand sich kaum dem Stimmbruch entronnen im Hinterzimmer des Saloons von Turlock, Kalifornien, wo er einen Pagen spielte und stotterte, bis einer in die Decke schoss. Und so weiter. Und so weiter. Immer die Primadonnen geheiratet, sonst wäre das gar nichts geworden, erst Lillian, dann May, und ein einziges Kind, den mickrigen Edwin von Lillian, seit Jahren nicht mehr gesehen … Was für ein Leben. So hastig. Und jetzt halt das Lichtspiel. Wie May es verachtete. Mumpitz und Humbug und Chicago mit dem scheußlichen Wetter. Pioniersblut, dachte der Spielleiter Boggs und schaute den Senator im Sessel an, der inzwischen recht krumm saß, und schaute das Produktionsschild an, Das Attentat auf Senator Boggs, und die Migräne bohrte sich linksseitig in sein Hirn wie die Spitzen einer eisernen Jungfrau. Er sah nicht mehr klar. Und dann kam die Sonne hervor.
»Achtung! Aufnahme!«, schrie Boggs. Der Operator löste die Kurbel. Das Mädchen an der Wiege machte einen kleinen Knicks. Der Gehilfe mit der Scheibe hielt die Scheibe hoch. Der Senator im Sessel nahm die stolze Südstaatlerpose ein und der Schütze vor dem Fenster die brutale Mörderpose. Sein Schnauzbart war zum Kinnbart verrutscht. Sei’s drum, dachte Boggs und schrie »Kamera!« Die Kurbel ging. Das kleine, langweilige Kurbelgeräusch ertönte. »Schüsse und Scherben!«, schrie Boggs. Dann traf ihn ein Sonnenstrahl zwischen die Augen. »Halt«, schrie Francis Boggs, »halt! halt! halt!«
Alles hielt an. Sogar Mr. Golden und seine Heloten hielten an; so laut hatte Boggs geschrieen.
»Ich will den Revolver von nahem sehen«, sagte Boggs zu seinem Kameramann. »Ich will nur den Revolver im Bild. Dann nur das Mündungsfeuer. Dann nur die Scherben. Dann nur das Gesicht des Kindes, das schreit. Dann den Senator, der stürzt. Dann nur seine Hand, die zuckt. Mit der Zeitung. Zerrissen. Nahaufnahme. Und alles im Rauch. Stellen Sie die Kamera halt auf einen Wagen. Fahren Sie damit in der Szene herum. Jemand kann Sie ziehen. Oder schieben. Sie wechseln halt die Linse, wenn es unscharf wird. Das sind so sieben, acht Schnitte für den Todesschuss. Und ich will Blut. Jemand hol mir bittschön was Rotes. Oder was Schwarzes. Das kann Opa in den Mund nehmen und ausspucken, wenn er getroffen ist. Ketchup. Tinte. Was weiß ich. Verdünn mir voller Schuhcreme und Idioten. Man braucht das reeller. Mit Zack-zack-zack. Ich will auch drei Spulen drehen. Ich will eine halbe Stunde. Ich will ein halbstündiges Lichtspiel machen, mit reellem Zack- … mit Zack-zack …«
Boggs holte Luft. Das nennt man Aura, hatte der Arzt erklärt. Da flimmert’s bei der Migränepatientin und sie hat Visionen. Essen Sie Meerrettich, Mann. Reißen Sie sich am Riemen.
Der Kameramann hatte die Kurbel justiert und die Linse verschlossen. Er starrte dem Spielleiter dauernd stumm ins Gesicht. Seine Oberlippe hatte die Schneidezähne entblößt. »Nahaufnahme?«, fragte der Kameramann langsam. Seine Nüstern weiteten sich. Er will riechen, dachte Boggs, der allmählich zu sich kam, ob ich wohl eine Fahne habe. »Herumschieben?«, fragte der Operator zäh, »In einem Wagen?«
Die Sonne war fort.
»Acht Schnitte?«, skandierte der Operator, »Acht?«
Francis Boggs stellte sich ein Lichtspiel vor, das eine geschlagene halbe Stunde lang Blutlachen und leinwandgroße Feuerwaffen vors Publikum brachte. Pfui Teufel, dachte Boggs.
»Der langen Rede kurzer Sinn«, sagte er mehr zu sich selbst, als die ersten Regentropfen auf das Glasdach der Selig Polyscope fielen, »man sollte nach Kalifornien ziehen, denn hier ist das Wetter nicht gut.«
Der Mann im Regen, der am 6. Mai 1842 Lilburn Boggs’ Fensterscheibe mit Grobschrot aus einer deutschen Pfefferbüchse entzweischoss, Mädchen und Säugling knapp verfehlte und den Senator viermal traf – mit zwei Kugeln links durch den Schädel ins Hirn und mit zwei in den Hals, von denen eine durch den Gaumen in die Mundhöhle eintrat und vom Senator in einer Blutfontäne wieder ausgespuckt wurde –, konnte nie überführt werden. Verdächtigt und inhaftiert wurde der vormalige Fallensteller und Spurensucher Orrin Porter »Old Port« Rockwell aus Utah, bekannt für seine Unverwüstlichkeit, seine Schießkunst und seine Frisur, einen hochsitzenden filzigen Flechtdutt. Der Prophet Joseph Smith, dem Mr. Porter ab und an als Leibwächter diente, hatte ihm prophezeit, weder Kugel noch Klinge könnten ihm ein Leids tun, solange er seine Haare nicht schnitte, ihn sodann mormonisch getauft und mit einer Miss Luana Beebe, die gerade zur Stelle war, mormonisch getraut. Das war ein großer Moment in Porter Rockwells Leben gewesen.
Nach neun Monaten, keinem Beweis und keinem Geständnis (»Ich schieß’ nicht auf Leute«, sagte Old Port beleidigt, »ich schieß’ Leute bloß tot!«) musste man ihn in Missouri aus der Haft entlassen. Man nannte ihn den Würgeengel des Mormonentums, den Samson von Nauvoo. Aus seinem Barthaar fertigte man Reliquien, die auf Märkten feilgeboten wurden.
Entgegen jeder Vernunft und ärztlichen Prognose schlug Lilburn Boggs in Independence nach drei Tagen Koma die Augen auf und verlangte nach Frühstück, nach der Bibel, nach Frau, Kindern und der Korrespondenz des Senats. Dann sagte er »Ich will nach Kalifornien«. Man schob das auf die zwei verbliebenen Stück Grobschrot in seinem Gehirn.
»Man sollte die gesamte Polyscope nach Kalifornien umsiedeln«, sagte Francis Boggs zu seinem Chef William Selig, »denn in Chicago ist das Wetter nicht gut.«
»Was für eine schöne Idee.« Colonel Selig lächelte den Jungspielleiter an, von Sessel zu Stuhl, über den großen Schreibtisch hinweg. Es bestand kein Zweifel, dass Mr. Selig nicht zuhörte, dass er einen Umzug keines Gedankens würdigte, dass er an die nächsten siebzig Lichtspiele der Polyscope dachte oder an die neue Auflage des Multifunktionsprojektors oder auch nur an den kleinen Schimpansen, mit dem er zuweilen in den Außenkulissen ein Zigarettchen rauchte; dennoch hob sich Boggs’ Laune und Boggs’ Migräne verflog, weil der Colonel so ein netter Mensch war.
»Mir kam auch zu Ohren, Sie wollten den Kameraoperator in ein Wägelchen stecken und in der Kulisse umherschieben«, sagte Selig, »und dass Sie Ihr tägliches Lichtspiel nicht fertigstellten?«
»Wagen«, verwehrte sich Boggs. Er wartete darauf, hoffte darauf, entlassen zu werden. Weshalb sonst hatte ihn Selig gerufen? Seit er den Geist seines Großvaters gesehen hatte, träumte Boggs von Kalifornien. Er hatte einen ganzen Abend vor der Scheibe des Gewächshauses der botanischen Gesellschaft von Illinois verbracht und die Magnolienbäume angeseufzt, die man durch das beschlagene Glas gar nicht gut sehen konnte und die nicht einmal blühten; so schlimm war sein Heimweh. Francis Boggs wollte nach Kalifornien, zurück zum Theater, und wenn May nicht mitwollte, so würden sie sich halt scheiden lassen, und