13.4Der Klient will nicht über das Problem reden, benötigt aber Hilfe
14Ausblick und weitere Einsatzfelder der Lebensflussarbeit
Anhang 1: Peter Nemetschek – Stationen des Lebens
1Einleitung
Wir alle kennen die Faszination von Wasser, das in den unterschiedlichsten Formen die Erde belebt – Bäche, Flüsse oder Ströme, Seen oder Meere, die die Erde begleiten und unser Leben bereichern, die die Grundlage für alles Leben schaffen.
Kinder fühlen sich von Wasser angezogen, und die meisten spielen unglaublich gerne in Bächen oder flachen Gewässern. Auch in vielen von uns ist diese Faszination erhalten geblieben, und der Anblick von Flüssen, die durch Landschaften und Städte fließen, oder das Geräusch von strömendem Wasser entspannt uns und versetzt uns oft schon ganz von alleine in eine Art Alltagstrance.
Abb. 1 1
Flüsse können so verschieden sein – breit und friedlich sanft fließend, gewaltig mit rauschenden Wassermassen, die schnell dahinströmen, dann staut sich das Wasser, wird schmal und kurvig, enger und enger, wild und steinig … Es wird schlammig und dunkel, um sich dann wieder klar und durchscheinend zu zeigen, sodass jeder Kiesel am Flussgrund sichtbar wird … manchmal wechselt das Wasser scheinbar die Richtung, fließt unendlich kurvig, tiefer oder flacher, und womöglich geht es in einem Wasserfall steil bergab, um dann wieder entspannt und wohlig dahinzufließen …
So, wie die Flüsse der Natur, so gestalten sich auch unsere Lebensflüsse – ganz abhängig von unserer jeweiligen Lebensphase. Sie fließen von der Quelle bis zum Meer, manchmal direkt – meist auf Umwegen …
Auf so eine Reise möchte ich Sie, liebe Leserin, lieber Leser, einladen. Flusslandschaften erleben und eintauchen in diese wunderbare Welt der Lebensflüsse, um neue und anregende Methoden zu erfahren!
Das Lebensflussmodell habe ich Ende der 1990er-Jahre in der systemischen Weiterbildung bei Peter Nemetschek und seinen Trainerinnen gelernt. Es ermöglichte mir, von Beginn an mit Klienten erfolgreich zu arbeiten, obwohl ich damals noch Berufsanfängerin war. Im Laufe der vielen Jahre entwickelte ich während meiner Arbeit in eigener Praxis als Psychotherapeutin und Coach eigene Facetten und erweiternde Techniken. In diesem Einführungsbuch möchte ich Ihnen einen Teil meiner Arbeit vorstellen.
Es war und ist ein wichtiges Lebensziel von Peter Nemetschek, dass sich das Wissen über die Lebensflussmethode verbreitet und für Menschen hilfreich und unterstützend ist. Das ist der Grund, weshalb er mit 80 Jahren noch als Trainer arbeitet. Mich faszinierte diese Methode seit Beginn meiner therapeutischen Arbeit, und ich nutze sie in vielen Kontexten. Deshalb ist es auch mir ein Anliegen, die Methode der Lebensflusslandschaften vielen Kolleginnen und Kollegen zugänglich zu machen und ein praxisnahes Buch zu schreiben, das den Weg ebnet und ermutigt, diese hilfreiche Technik in das eigene Repertoire zu integrieren.
Als kurzzeittherapeutische Methode ist das Modell des Lebensflusses sowohl für Neueinsteiger als auch für Therapeuten, Berater oder Coachs aus den unterschiedlichsten Ausbildungsrichtungen hervorragend geeignet. Es handelt sich um eine leicht erlernbare, lebendige und kreative Trancemethode, die in verschiedenen Formen vielfältig für fast alle Problembereiche, Altersstufen und Bildungsschichten einsetzbar ist. Sowohl Einzelpersonen (Kinder, Jugendliche und Erwachsene) als auch Paare, Familien, Gruppen oder Teams profitieren von der Lebensflussarbeit.
Die hier vorgestellten Techniken haben sich in der Praxis als sehr hilfreich erwiesen. Explizite Studien zum Lebensflussmodell gibt es bisher noch nicht. Da es sich aber um eine hypnotherapeutische Visualisierungsmethode handelt, liegt es aus meiner Sicht nahe, dass die Forschungsergebnisse aus dem Bereich der klinischen Hypnose auf die Arbeit mit dem Lebensfluss übertragbar sind.
Der Klient visualisiert im sogenannten Lebensfluss die eigene Lebensgeschichte und kann durch die entstehende Metaebene einen Perspektivwechsel erfahren. Diese Visualisierungen prägen sich sehr gut ein und stellen eine hervorragende jederzeit nutzbare Ressource dar.
Auch der Psychiater und Psychotherapeut Milton H. Erickson nutzte in seinen Hypnosen unter anderem die Metapher einer Lebenslandschaft, die in die Zukunft führt und dem Klienten die Möglichkeit gibt, das eigene Leben aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Erickson führt die Wege des Lebens und der Lösungen bis in die ferne Zukunft hinein, und Peter Nemetschek, der bei ihm lernte, nutzte diese Metaphern und visualisierte sie – entsprechend seiner Herkunft als bildender Künstler – kreativ und fantasievoll mithilfe von Seilen und Symbolen anfänglich als Lebenslinie und später als Lebensfluss. Ganz konkret werden hierbei bunte Seile von der Vergangenheit ausgehend bis in die Zukunft hinein auf den Boden gelegt. Diese visualisierten Lebenslinien, die den Ablauf des Lebens oder einzelne Lebensphasen symbolisieren, lassen ein lebendiges und farbenfrohes Bild entstehen.
Den Lebensfluss kann man dabei als einzelnes Seil legen, wenn es um eine persönliche Thematik geht, in der andere Personen für die Lösung nicht mithilfe eines Seils visualisiert werden müssen (s. Abb. 2).
Ebenso ist es möglich, Seile, die das Bezugssystem symbolisieren, zu dem Seil des Klienten zu legen, obwohl die anderen Personen in der Sitzung nicht anwesend sind (s. Abb. 3).
In familientherapeutischen Sitzungen können für alle anwesenden oder auch wichtigen abwesenden Personen stellvertretend Seile gelegt werden: Es entsteht eine Lebensflusslandschaft mit je einem Seil für jede bedeutsame Person, sichtbar für alle anwesenden Familienmitglieder bei einer Familienberatung, sodass nun jeder für sich – und gleichzeitig gemeinsam – seine seelischen Prozesse durchlaufen kann. Die Familienmitglieder haben ein Ziel, eine Richtung vor Augen und können diese regelrecht ablaufen. Dadurch macht auch der Körper eine sinnliche Erfahrung. Ebenso kann man in der Paartherapie die Beziehung des Paares mit den Seilen visualisieren und gemeinsame Lösungen entwickeln.
Schon die alten Germanen stellten sich vor, dass die Nornen, die Schicksalsgöttinnen, die Lebensfäden der Menschen zu Füßen des Weltenbaumes spinnen. Ebenso sind die Begriffe Lebenslinie oder Lebensstrom gängige und hilfreiche Metaphern, die dem Klienten helfen, in die spontan entstehende Alltagstrance während der Lebensflussarbeit zu gleiten. Durch die Visualisierung des Lebens oder einer Lebensphase kann man Klienten systemisch begleiten und in der Entwicklung unterstützen. Die Prozesse der persönlichen Entwicklung, der Familienebene oder auch der Therapie werden schrittweise visualisiert – so können aus den Lebensflüssen regelrechte Ressourcenlandschaften, Familienlandschaften oder auch Bindungslandschaften entstehen.
Abb. 2: Der Lebensfluss eines Klienten, von der Vergangenheit ausgehend in Richtung Zukunft 2