31. August. Laut Jewgeni maues Wetter, Ruhepause. Romms Texte und seine stimmen immer weniger überein. Jewgeni kocht den Rest der Rinderzunge, danach ist Hungern angesagt. Der Mond stört sie beim Einschlafen, aber sie sind gut akklimatisiert.
1. September. Den ganzen Tag Sturm. Gorbunow ist unzufrieden und möchte endlich die Wetterstation fertig aufbauen, aber die Windstöße zerreißen die Zelte. In Romms Bericht gelingt es Gorbunow, einen Fehlkontakt zu reparieren. Bei minus 27 Grad Celsius, so schreibt Jewgeni in seinen Notizbüchern. Sicher ist, dass das Anemometer durchdreht, dass der Druck abfällt. Der Schnee dringt überall ein. Gefriert auf den Schlafsäcken. Die Lebensmittel lassen sich an den Fingern abzählen. Der Neuschnee drückt auf die Zeltwände. Die Zeltstangen brechen. Am Morgen liegt der Schnee so schwer auf Guettier und Gorbunow, dass sie fast ersticken. Jewgeni hört ihr Rufen und schafft es, sie mit einem Topfdeckel freizuschaufeln.
2. September. Guettier ist blass und ihm ist schlecht, er bleibt liegen und kann weder schlucken noch trinken. Von Krämpfen geschüttelt beschwört er seine Kameraden, sich nicht um ihn zu kümmern. Ohnehin hat auch er einen ausländischen Namen, den Namen französischer Vorfahren, die ins Reich des Zaren gekommen waren, um sich niederzulassen. Sein Vater war Leibarzt von Lenin, Swerdlow und Dzierżyński. Wie weit ist doch jetzt die Moskauer Revolutionselite entfernt. Die Zelte brechen unter den Windböen zusammen. Sie müssen mithilfe von Säcken und sogar mit Teilen der Wetterstation befestigt werden. Abalakow kämpft allein gegen die Elemente. Es ist nur noch eine Fischkonserve und eine Tafel Schokolade übrig.
In der darauffolgenden Nacht sinkt das Quecksilber auf minus 45 Grad Celsius, schreibt Jewgeni. Es tobt erneut ein Sturm. Doch am Morgen werden sie von mehr oder weniger klarem Wetter geweckt. In seinem Bericht vertritt Romm die Meinung, dass es angesichts der kritischen Situation logisch gewesen wäre, diese Aufheiterung zu nutzen, um nach unten zu fliehen. Hätte die kommunistische Orthodoxie etwa nicht verordnet, zuerst Guettier zu retten? Aber Gorbunow entscheidet anders. „Das ist hier keine sportliche Bergtour, sondern eine wissenschaftliche, eine staatliche Mission.“ So bricht er mit Jewgeni zum Gipfel auf, in der Hoffnung, zu guter Letzt doch noch den Sieg davonzutragen. Abalakow und Gorbunow. Authentische, klingende russische Namen, wie für die Nachwelt gemacht.
Sie warten zunächst, bis die Sonnenstrahlen die Luft etwas aufgewärmt haben. Dann spurt Jewgeni Schritt für Schritt durch die weiße Wüste, durch kniehohen Neuschnee. Vor ihm münden die unberührten und von Spalten durchzogenen Hänge in einem Gipfel aus Eis. Hinter ihm der schrecklich leidende Gorbunow. Er hat Halluzinationen. Romm erzählt, dass er sich doppelt sieht, neben sich selbst gehend. Er ist viel zu langsam und die Sonne erreicht schon ihren Höchststand. Mittag. Die Stunde des Mythos Abalakow schlägt. Gorbunow kann nicht mehr. Er befiehlt ihm, allein auf den Gipfel des Pik Stalin zu steigen, oder vielleicht ist es Jewgeni, der ihm diese Entscheidung nahelegt. Hier teilen sich die Meinungen. Fest steht, dass die Seilschaft, als perfekte Metapher für den Kommunismus, in diesem Moment auseinanderbricht. Ein Mann dort oben reicht aus, um der Eitelkeit des Führers zu schmeicheln. Abalakow würde genügen …
Und dann, besagt die Legende – Jewgeni erwähnt das nicht –, öffnen sie die letzte verdorbene Konserve. Heringe ohne Geschmack. Gorbunow überlässt seinen Anteil dem Mann, der auf den Gipfel steigen wird. Auf einen Zettel schreiben sie eine Nachricht: „Am 3. September 1933 erreichte Jewgeni Abalakow den Gipfel des Pik Stalin und Nikolai Gorbunow den Gipfel des Ostgrates.“ Jetzt muss nur noch vollbracht werden, was niedergeschrieben ist. Gorbunow behält das Seil. Abalakow nimmt die Messinstrumente. Lenins ehemaliger Sekretär, der so sehr auf Moskaus Geheimnisse Einfluss nimmt, hat keine andere Wahl, als dem Aufstieg des jungen Sibiriaken zuzusehen, der keine Müdigkeit kennt und der womöglich ihr Schicksal in den Händen hält.
Dort oben kriecht Jewgeni Abalakow über eine Schneebrücke. Schon geht die Sonne unter. Die Hänge sind bis zu 45 Grad steil. Er steigt sie mit seinen kurzen Haxen, die wie für den Kasatschoktanzen gemacht sind, empor. Er wird vom Gipfel angezogen, irgendwo unten ist Gorbunow, nur noch eine Silhouette. Fünf Stunden einsamer Aufstieg in der dünnen und azurblauen Luft. Der letzte Grat, in den seine Steigeisen sich festbeißen, ist von absolut makelloser Unberührtheit. Der Schnee ist hart, „wie Steingut“, erinnert er sich. Was wohl im Kopf dieses Burschen vom Jenissei vorgeht, wie er allein durch den Himmel über dem gewaltigen Knoten des Pamirgebirges marschiert?
Steine: das Ziel ist ganz nah. Der Wind schiebt ihn Richtung Abgrund, Eiszapfen verlängern seinen Bart. Der Grat wird immer schmaler, scharf „wie eine Klinge“, mit einigen Wechten. Dann der Gipfel. Er hat es geschafft, er fällt auf alle viere. Er ist der Erste. Der Höhenmesser zeigt minus 25 Grad Celsius und 7700 Meter Höhe an. 7500 Meter, korrigiert er in Gedanken. Der dritthöchste Gipfel der Welt, der bisher bestiegen wurde. Unbekannte Täler breiten sich überall zu seinen Füßen aus. Alle Berichte besagen, dass er noch die Kraft findet, eine Skizze der Gletschersysteme, die sich unter ihm auftun, anzufertigen. Denn ist er nicht ein Alpinist vor allem zum Zwecke der Forschung? Leider ist es im Süden und Osten bedeckt, der afghanische Hindukusch und Tibet sind nicht sichtbar. Romm gestaltet aus diesen Wolken ein lyrisches und phantasmagorisches Bild, auf welchem der Schatten des Helden auf die weiße Wand der Wolken fällt, die die untergehende Sonne nach und nach glühend rot färbt.
Dann steckt Jewgeni den Zettel, den er mit Gorbunow geschrieben hat, in ihre letzte Konservendose, welche er unter einen Stein legt. Doch auf dem Rückweg bereut er plötzlich, dieses Zeichen auf dem Gipfel errichtet zu haben, da er befürchtet, dass der Wind es zerstört. Fast 25 Jahre später wird der Gipfel von einer anderen Expedition abgesucht werden, die wiederum folgende Worte hinterlässt: „Es wurde kein Beweis einer Besteigung des Pik Stalin gefunden.“ Nie hätte ich es gewagt, so etwas zu denken. Ich habe der Leistung Abalakows meinen uneingeschränkten Glauben geschenkt. Niemand in der UdSSR erlaubte sich jemals, explizit die Erstbesteigung der 29. Einheit infrage zu stellen, aber man kommt nicht umhin zu sagen, dass keinerlei Beweis ihre Behauptung unterstützt. Der Gipfelgrat besteht aus mehreren kleinen Erhebungen, die von Windstößen mal eingeschneit, mal leergefegt werden. Was damals sichtbar war, ist heute vielleicht von Eis überzogen. Wir werden niemals sicher wissen, welchen Punkt Jewgeni tatsächlich erreicht hat.
Polemik beiseite, Jewgeni Abalakow taumelt am 3. September 1933 talwärts, dem Ruhm entgegen. Er trifft auf Gorbunow, der kaum vorangekommen ist. Den Berichten zufolge machen sie noch einige Fotos und Messungen und fertigen verschiedene schematische Zeichnungen der umliegenden Berge an. Das fällt einem jetzt wirklich schwer zu glauben. Wahrscheinlicher ist, dass sie sich völlig erschöpft und bei Mondschein beeilten, das Lager auf 6900 Metern zu erreichen, wo Guettier im Sterben liegt. Im Mondlicht erscheint das gesamte Relief wie am helllichten Tag. Als Gorbunow seine Schuhe auszieht, entdeckt er schlimme Erfrierungen. Jewgeni massiert kräftig bis spät in die Nacht die Zehen des Apparatschiks. Ich kann in den letzten Absätzen, die nur über den Sieg berichten, keine Zeile über die Wetterstation finden. Sie wird mit keinem Wort mehr erwähnt und wahrscheinlich hat sie an die Wetterwarte auf dem Fedtschenko-Gletscher, die im Vorjahr mithilfe einer 200 Kamele starken Karawane errichtet wurde, keinerlei Daten übertragen.
Am nächsten Tag bringt Abalakow heroisch – denn von nun an wird alles, was Jewgeni Abalakow macht, heroisch sein – seine beiden Kameraden ins Lager auf 6400 Metern, bevor er selbst schneeblind wird. Seit einer Woche gab es keine Nachricht mehr von ihnen. Unten hatten schon alle die Hoffnung aufgegeben, dramatisiert Romm. Der Österreicher Zak beschließt, ihnen zu Hilfe zu kommen, allein …
Wiederholter Verstoß gegen die zukünftigen Regeln des sowjetischen Alpinismus: völlige Improvisation dieses „Sturmtrupps“, der taumelnd zurückkommt. Romm, der das Basislager selbst nie verlassen hat, stellt fest: „Der erste, der auf der Moräne erschien, war Jewgeni Abalakow. Der Gang dieses