Was generell gilt, trifft auch für die Geschichtsschreibung zu: Der Mensch ist ein deutendes Wesen; er ist auf Selbst- und Weltdeutung angewiesen, um seine Geschichte, sein Erleben, sich selbst und die anderen verstehen zu können. Dieser Deutungsprozess muss bewusst gestaltet und reflektiert werden, wobei die historischen Quellen ebenso im Blick zu behalten sind wie ihre Auslegungsgeschichte und die heutigen Konstruktionsbedingungen von Geschichte. Ein weiter Blick, Multiperspektivität und ein eigener Standort schließen sich dabei nicht aus, sondern ergänzen sich. Genese und Geltung eines historischen Phänomens müssen unterschieden, können aber nie wirklich getrennt werden.
1LEOPOLD VON RANKE, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494–1514, Leipzig 2 1874, in: L. v. Ranke’s Sämtliche Werke. Zweite Gesamtausgabe Bd. 33/34, Leipzig 1877, VII: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen; so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen.“
2Vgl. JOHANN GUSTAV DROYSEN, Historik, 422: „Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.“
3Vgl. JÜRGEN STRAUB, Über das Bilden von Vergangenheit, in: Jörn Rüsen (Hg.), Geschichtsbewusstsein, Köln/Weimar 2001, 45–113.
4Vgl. dazu HANS-JÜRGEN GOERTZ, Umgang mit Geschichte, 130–146.
5Vgl. dazu JÜRGEN KOCKA, Angemessenheitskriterien historischer Argumente, in: Wolfgang J. Mommsen/Jörn Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit, München 1977, 469–475.
6JOHANN GUSTAV DROYSEN, Historik, 69. Über geschichtliche Sachverhalte urteilt Droysen, ebd., zutreffend: „Sie sind nur historisch, weil wir sie historisch auffassen, nicht an sich und objektiv, sondern in unserer Betrachtung und durch sie. Wir müssen sie sozusagen transponieren.“
7Vgl. ERNST CASSIRER, Versuch über den Menschen, Hamburg 1996 (= 1944), 291: „Geschichtswissenschaft ist nicht Erkenntnis äußerer Fakten oder Ereignisse; sie ist eine Form der Selbsterkenntnis.“
8‚Fiktion‘ bezeichnet nicht einfach im umgangssprachlichen Sinn die Negation der Wirklichkeit, sondern ist in einem funktional-kommunikativen Sinn gemeint und kommt damit der ursprünglichen Bedeutung von ‚fictio‘ nahe: Bildung, Gestaltung. Vgl. WOLFGANG ISER, Der Akt des Lesens, München 31990, 88.
9Cicero, Orator 2,54 (der Historiker Antipater wird lobend herausgestellt, „die anderen erwiesen sich als Leute, die Geschichte nicht wirkungsvoll gestalten, sondern nur erzählen konnten“); Lk 1,1–4; Plutarch, Alexander 1,1 (
= „denn ich schreibe nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder“) zeigen deutlich, dass auch antike Autoren ein klares Bewusstsein von diesen Zusammenhängen hatten (vgl. ferner Thucydides, Historiae I 22,1; Lukian, Historia 51; Quintilian, Institutio Oratoria VIII 3,70).10Vgl. JÖRN RÜSEN, Faktizität und Fiktionalität der Geschichte – Was ist Wirklichkeit im historischen Denken?, in: Konstruktion von Wirklichkeit, hg. v. Jens Schröter/Antje Eddelbüttel, Berlin 2004, (19–32) 31.
11Zur Welt der Geschichtswissenschaften vgl. STEFAN JORDAN, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Paderborn 2009; zu den Methoden, Ansätzen und Fragestellungen vgl. MICHAEL MAURER (Hg.), Aufriss der Historischen Wissenschaften I–VI, Stuttgart 2001–2005.
12Vgl. dazu DIETER FLACH, Römische Geschichtsschreibung, Darmstadt 42013.
13Hilfreich zur Erfassung dieser Positionen ist die Diskursanalyse; sie ist eine Methode/Fragestellung, um die Formierung und Etablierung von Diskursen in der Geschichte zu erfassen und die damit verbundenen sprachlichen Äußerungen/Anschauungen/Argumente/Intentionen/Interessen/Machtansprüche zu erfassen und aufzuzeigen. Vgl. dazu: REINER KELLER, Diskursforschung, Wiesbaden 22004; ACHIM LANDWEHR, Historische Diskursanalyse, Frankfurt 2008.
14Zur Begründung der Datierungen vgl. UDO SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, 65.250f.
15Vgl. dazu KURT ALAND/BARBARA ALAND, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 21989; DAVID C. PARKER, New Testament Manuscripts and their Texts, Cambridge 2008.
16Der häufig verwendete Begriff der ‚religio licita‘ für das Judentum ist irreführend, weil es nie ‚offiziell‘ von römischer Seite anerkannt wurde; vgl. DIETRICH-ALEX KOCH, Geschichte des Urchristentums, 548–550. Die Römer akzeptierten lediglich in der Regel ‚alte‘ Kulte und Religionen und statteten zeitweise, sowie von Kaiser zu Kaiser unterschiedlich, das Judentum mit Sonderrechten aus.
2. Begriff und Abgrenzung der Epoche
2.1 Urchristentum oder frühes Christentum?
HENNING PAULSEN, Zur Wissenschaft vom Urchristentum und der Alten Kirche − ein methodischer Versuch, ZNW 68 (1977), 200–230. − STEFAN ALKIER, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, BHTh 82, Tübingen 1993. − JÜRGEN BECKER, Das Urchristentum als gegliederte Epoche, 9–17. − GERD LÜDEMANN, Das Urchristentum, 128–133. − DIETRICH-ALEX KOCH, Geschichte des Urchristentums, 22–27.153–156; MARKUS ÖHLER, Geschichte des frühen Christentums, 13-21.
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hat sich der Begriff des ‚Urchristentums‘ als terminus technicus für die früheste historische Epoche der Entstehung des Christentums durchgesetzt. Er vereint in sich mehrere Bedeutungen, die unterschiedlicher Ordnung sind und getrennt hinterfragt werden müssen. Zeitlich-deskriptiv ist zunächst der Moment des Anfangs gemeint, Urchristentum meint das anfängliche Christentum. Mit dem Präfix ‚Ur-‘ wird aber auch vielfach eine Wertung verbunden, die Beginn und Wesen des Christentums gleichsetzt: Urchristentum meint dann das ursprüngliche Christentum, den Urzustand. ‚Urchristentum‘ und ‚Urgemeinde‘ setzen bei diesem Verständnis die Vorstellung eines reinen, unverfälschten Ursprungs voraus, demgegenüber die spätere Entwicklung als Verfallsgeschichte angesehen werden muss1. Anfang und Wesen des Christentums werden in eins gesetzt, wobei zumeist die Einheit als Kennzeichen des Anfangs und Gegensätze/Konflikte als Zeichen des späteren Zerfalls des Ursprungs angesehen werden. Dabei handelt es sich jedoch jeweils um Werturteile bzw. Geschichtsbilder, die sich an den Texten gerade nicht verifizieren lassen.
Deshalb wurden neutralere Begriffe vorgeschlagen, um die Anfangsgeschichte des Christentums zu erfassen. Begriffe wie ‚apostolische – nachapostolische Zeit‘ oder ‚primitive Christianity‘ haben sich nicht durchgesetzt, weil sie ebenso viele normative Wertungen enthalten wie ‚Urchristentum‘. Demgegenüber wird in der aktuellen deutsch- und englischsprachigen Forschung häufig der Begriff ‚frühes Christentum‘ bzw. ‚Early Christianity‘ verwendet2, weil er am ehesten eine rein phänomenologische Erfassung und neutrale Bezeichnung der Anfangsgeschehnisse