Die ersten 100 Jahre des Christentums 30-130 n. Chr.. Udo Schnelle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Schnelle
Издательство: Bookwire
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Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846352298
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Ausdruck176. Die Tora ist zuallererst Lebensgabe und Lebensordnung (vgl. Dtn 30,15f: „Siehe, ich habe dir heute das Leben vorgelegt … Ich gebiete dir heute, den Herrn, deinen Gott zu lieben, auf seinen Wegen zu gehen und seine Gebote und Satzungen und Rechte zu halten“)177. Die Tora wird als Gnadengabe Gottes und als Urkunde seines Bundes verstanden (vgl. z.B. Sir 24; Jub 1,16–18), ihre Beachtung bedeutet, in Gottes Herrschaft einzutreten, sie anzuerkennen und durchzusetzen. Toratreue als Beachtung und Respektierung des Willens Gottes ist deshalb die von Israel erwartete Antwort auf die Erwählung Gottes. Die Tora vermittelt nicht die Gottesbeziehung, vielmehr ist sie Wegweiserin in der von Gott gewährten Ordnung der Schöpfung. Innerhalb dieses Gesamtkonzeptes ist Gerechtigkeit nicht das Resultat menschlicher Leistung, sondern Gottes Verheißung für die Menschen (vgl. Jub 22,15: „Und er erneuere seinen Bund mit dir, dass du ihm ein Volk bist zu seinem Erbteil in allen Ewigkeiten. Und er sei dir und deinem Samen Gott in Wahrheit und in Gerechtigkeit in allen Tagen der Erde“). Maßstab der Gerechtigkeit Gottes und der Gerechtigkeit des Menschen ist das Gesetz. Mose gab das Gesetz „um der Gerechtigkeit willen zur frommen Beachtung und zur Bildung des Charakters“ (Arist 144), „alles ist zum Zwecke der Gerechtigkeit gesetzlich geregelt“ (Arist 168; vgl. 147). Die Treue zur Tora gewährt Gerechtigkeit und Leben. Allerdings ist die Tora über lange Zeit keine wortwörtlich feste Größe, sondern was Tora jeweils ist, kann in einzelnen Schriften (z.B. die vorqumranische Tempelrolle, Jubiläenbuch, Qumranschriften, Philo) durchaus unterschiedlich entfaltet werden.

      Land, Tempel und Sabbat

      Mit der Erwählung und der Gabe der Tora verbindet sich die Gabe des Landes (Dtn 7,1: „Wenn der Herr, dein Gott, dich in das Land bringt, in das du ziehst, um es in Besitz zu nehmen …“). Die Landverheißung und die Landnahme sind der zentrale Inhalt des geschichtlichen Handelns Gottes (vgl. Dtn 11,29; 15,4; 18,9; 26,1; 30,5; Jos 21,43; Ps 25,13 u.ö.). Das Land Israel ist Jahwes Eigentum (vgl. Lev 25), in dem die Tora uneingeschränkt gilt und es keinen Götzendienst gibt. Deshalb ist das Bleiben im Land an das Halten der Tora gebunden (vgl. Dtn 4,1.26). Mit dem Land untrennbar verbunden sind Jerusalem als heilige Stadt und der Tempel als Wohnort Gottes. Der Tempel in Jerusalem ist der Thron Gottes, hier nimmt Gottes Königtum Wohnung (vgl. Jes 8,18; 1Kön 8,12ff; Ps 9,12; 74,2; 76,3; 132,13), hier erscheint er und lässt sich begegnen (vgl. Ex 29,43–45). Ebenso ist der Tempelberg der ‚heilige Berg‘ (vgl. Ps 2,6; 48,3) und Jerusalem die ‚heilige Stadt‘ (vgl. Jes 48,2; 52,1; Neh 11,1.18) und die ‚Stadt Gottes‘ (vgl. Ps 46,5; 48,2.9; 87,3). Seit der persischen Zeit wird der Sabbat zunehmend zum zentralen Zeichen jüdischer Identität178. Die relativ kurzen Ausgangstexte Ex 23,10; 34,18–23;35,1–3 (vgl. ferner Ex 16,23–30; Lev 25,1–7) wurden im Rahmen einer vornehmlich priesterlich-rigoristischen Interpretation immer mehr ausgeweitet, wie exemplarisch ein Vergleich von Jub 50; CD 10,14–11,18 und dem Mischnatraktat Schabbat zeigt. Aus der von Gott gebotenen Ruhepflicht am 7. Tag entwickelte sich nach und nach ein umfangreiches Regelsystem; so wurden in Schabbat VII 2 ‚vierzig weniger eins‘ verbotene Hauptarbeiten aufgelistet.

      Mit der am Monotheismus, der Erwählung und der Tora orientierten theologischen Grundkonstruktion verbinden sich im Judentum zwei wirkmächtige geistige Strömungen, die auch das frühe Christentum beeinflussten: Apokalyptik und Weisheit.

      Apokalyptisches Denken

      Die Apokalyptik ist gleichermaßen ein geistiges und literarisches Phänomen, das vor allem zwischen 200 v.Chr. und 100 n.Chr. das jüdische, aber dann auch das frühchristliche Denken stark prägte179. Apokalyptik (images = „Offenbarung/Enthüllung“) ist eine bestimmte Art und Weise, mit Hilfe jenseitiger Erkenntnis Geschichte zu interpretieren, die in Apokalypsen ihren literarischen Niederschlag findet180. Die Grundannahme ist die Vorstellung, dass Idealgestalten der jüdischen Geschichte eine außerordentliche Einsicht/Erleuchtung/Offenbarung erhielten, die Gottes Plan für die Zukunft enthüllen und in Schriften für die Orientierung späterer Generationen niedergelegt wurden. Man wähnt sich am Ende der Tage und erhofft Gottes baldiges Eingreifen, um die Dinge grundlegend zum Guten zu wenden. Zur Matrix des apokalyptischen Denkens zählen: 1) Pseudepigraphie als Inanspruchnahme legendärer Gestalten der Vergangenheit (z.B. Henoch, Baruch, Mose, Esra), um so das neue Wissen zu legitimieren; 2) Visionen mit Offenbarungen über die Geschichte (vornehmlich des jüdischen Volkes); 3) Himmelsreisen und Jenseitsschilderungen, die dem Apokalyptiker gewährt werden; 4) Geschichtsüberblicke, die häufig auf einem weisheitlich-periodischen Geschichtsdenken basieren, wonach die Bedrängnisse der Gegenwart von den Freuden der Zukunft abgelöst werden; 5) die Hoffnung auf eine Wende in der Geschichte hin zu einem Endzustand, der dem Urzustand entspricht; 6) eine lebhafte und bunte Bildersprache, die teilweise verschlüsselt ist und nur von der eigenen Gruppe verstanden werden soll; 7) Paränese und Paraklese, die vor allem darauf zielen, den Versuchungen der Gegenwart zu widerstehen; 8) Gebete um Hilfe und Rettung aus der gegenwärtigen Situation, die als Endzeit/letzte Zeit verstanden wird; 9) Zuschreibungen der eigenen Erwählung und der Verwerfung anderer, die sich häufig mit deterministischen und dualistischen Aussagen verbinden; 10) die Erwartung zukünftiger Heilsgestalten, die oft in einer Art Endkampf widergöttliche Mächte/eschatologische Gegenspieler überwinden und von Gott in eine Herrscherposition (z.B. Menschensohn; Messias) eingesetzt werden. Apokalyptik ist gleichermaßen ein literarisches und theologisches Phänomen, das Geschichte deutet, indem wechselseitig die kommende Geschichte und die gegenwärtige Situation interpretiert werden. So entsteht ein umfassendes, teilweise verschlüsseltes Bild von Weltlauf und Weltende in Gestalt einer von Gott heraufgeführten Katastrophe.

      Haupttexte der jüdischen Apokalyptik sind: äthHenoch (= 1Hen: umfangreiche Sammlung der Henochliteratur, deren älteste Teile in die vormakkabäische Zeit zurückreichen); Daniel; Jesajaapokalypse (Jes 24–27); Jubiläenbuch; Himmelfahrt Moses; Sibyllinen, 4Esra; slHenoch (= 2Hen), syrBaruch; Apokalypse Abrahams; Teile der Qumranschriften; grBaruch181. Als ein Mustertext der jüdischen Apokalyptik kann das im 4./3. Jh. v. Chr. entstandene Joel-Buch gelesen werden. Es entfaltet in exemplarischer Weise das apokalyptische Gesamtszenario (1,2-20: dem Tag des Herrn geht eine allgemeine Not voran; 2,1-11: es folgt die allgemeine Vernichtung; 2,12-27: Gott eröffnet für die Umkehrwilligen aus Israel eine neue Heilszeit; 3,1-5: Ausgießung des Geistes/Rettung Israels; 4,1-16: Vernichtung der Heiden; 4,17-21: Unheil über die Heiden/endzeitliche Errettung Jerusalems). Am Ende der Zeiten erfolgt dann der ‚heilige Krieg‘ (Joel 4,9) Jahwes gegen die Heiden. Zahlreiche Texte der Apokalyptik wurden im Laufe ihrer Tradierung weitergeschrieben und umgestaltet182. Motiv- und traditionsgeschichtlich fließen in der jüdischen Apokalyptik vor allem mit der Gestalt des Henoch verbundene und aus Ezechiel gespeiste Traditionen der Himmelsreisenden und Offenbarungsmittler sowie die vor allem mit Mose verbundene Sinaitradition ineinander.

      Schreiber als Traditionsgaranten

      Maßgebliche Träger der jüdischen Apokalyptik dürften die ‚Schreiber/Schriftgelehrten‘ gewesen sein, torakundige Gelehrte, zu deren Aufgaben die Auslegung der Tora, die Ausbildung von Schülern in der Tora und die Rechtssprechung nach der Tora zählten. Wahrscheinlich ab dem 4. Jh. v.Chr. bildete sich aus der Priesterschaft der Stand der ‚Schreiber/Schriftgelehrten‘, der in Esra seine idealtypischen Ursprünge sah (Esr 7,6.11: Esra als Schriftgelehrter und Priester). Jesus Sirach zeichnet um 180 v.Chr. ein Idealbild des weisen Schreibers/Schriftgelehrten (Sir 38,24–39,11), dessen Weisheit und Einsicht vor Gott und der Welt gelobt wird und der sich uneingeschränkt auf die Tora konzentriert. Die ‚Schreiber/Schriftgelehrten‘ gehörten in der Anfangszeit mehrheitlich zur niederen Priesterschaft, sie dienten der Tempelaristokratie (vgl. Sir 39,4), waren aber zugleich Träger der jüdischen Tradition und Wahrer der jüdischen Identität. Während sich die Tempelaristokratie – vor allem die Hohepriester und die ihm nahe stehenden Kreise der höheren Priesterschaft – der hellenistischen Assimilation öffneten oder sogar selbst Hellenisierung betrieben, distanzierte sich die Mehrheit der Schreiber/Schriftgelehrten davon183. Ihren Protest gegen die hellenistische Assimilierung formulierten Schreiber/Schriftgelehrte auch in Apokalypsen. So spricht Hen 12,4 („Henoch der Schreiber“) dafür, dass hinter der umfänglichen und über Jahrhunderte weiterentwickelten