Land, Tempel und Sabbat
Mit der Erwählung und der Gabe der Tora verbindet sich die Gabe des Landes (Dtn 7,1: „Wenn der Herr, dein Gott, dich in das Land bringt, in das du ziehst, um es in Besitz zu nehmen …“). Die Landverheißung und die Landnahme sind der zentrale Inhalt des geschichtlichen Handelns Gottes (vgl. Dtn 11,29; 15,4; 18,9; 26,1; 30,5; Jos 21,43; Ps 25,13 u.ö.). Das Land Israel ist Jahwes Eigentum (vgl. Lev 25), in dem die Tora uneingeschränkt gilt und es keinen Götzendienst gibt. Deshalb ist das Bleiben im Land an das Halten der Tora gebunden (vgl. Dtn 4,1.26). Mit dem Land untrennbar verbunden sind Jerusalem als heilige Stadt und der Tempel als Wohnort Gottes. Der Tempel in Jerusalem ist der Thron Gottes, hier nimmt Gottes Königtum Wohnung (vgl. Jes 8,18; 1Kön 8,12ff; Ps 9,12; 74,2; 76,3; 132,13), hier erscheint er und lässt sich begegnen (vgl. Ex 29,43–45). Ebenso ist der Tempelberg der ‚heilige Berg‘ (vgl. Ps 2,6; 48,3) und Jerusalem die ‚heilige Stadt‘ (vgl. Jes 48,2; 52,1; Neh 11,1.18) und die ‚Stadt Gottes‘ (vgl. Ps 46,5; 48,2.9; 87,3). Seit der persischen Zeit wird der Sabbat zunehmend zum zentralen Zeichen jüdischer Identität178. Die relativ kurzen Ausgangstexte Ex 23,10; 34,18–23;35,1–3 (vgl. ferner Ex 16,23–30; Lev 25,1–7) wurden im Rahmen einer vornehmlich priesterlich-rigoristischen Interpretation immer mehr ausgeweitet, wie exemplarisch ein Vergleich von Jub 50; CD 10,14–11,18 und dem Mischnatraktat Schabbat zeigt. Aus der von Gott gebotenen Ruhepflicht am 7. Tag entwickelte sich nach und nach ein umfangreiches Regelsystem; so wurden in Schabbat VII 2 ‚vierzig weniger eins‘ verbotene Hauptarbeiten aufgelistet.
Mit der am Monotheismus, der Erwählung und der Tora orientierten theologischen Grundkonstruktion verbinden sich im Judentum zwei wirkmächtige geistige Strömungen, die auch das frühe Christentum beeinflussten: Apokalyptik und Weisheit.
Apokalyptisches Denken
Die Apokalyptik ist gleichermaßen ein geistiges und literarisches Phänomen, das vor allem zwischen 200 v.Chr. und 100 n.Chr. das jüdische, aber dann auch das frühchristliche Denken stark prägte179. Apokalyptik (
Haupttexte der jüdischen Apokalyptik sind: äthHenoch (= 1Hen: umfangreiche Sammlung der Henochliteratur, deren älteste Teile in die vormakkabäische Zeit zurückreichen); Daniel; Jesajaapokalypse (Jes 24–27); Jubiläenbuch; Himmelfahrt Moses; Sibyllinen, 4Esra; slHenoch (= 2Hen), syrBaruch; Apokalypse Abrahams; Teile der Qumranschriften; grBaruch181. Als ein Mustertext der jüdischen Apokalyptik kann das im 4./3. Jh. v. Chr. entstandene Joel-Buch gelesen werden. Es entfaltet in exemplarischer Weise das apokalyptische Gesamtszenario (1,2-20: dem Tag des Herrn geht eine allgemeine Not voran; 2,1-11: es folgt die allgemeine Vernichtung; 2,12-27: Gott eröffnet für die Umkehrwilligen aus Israel eine neue Heilszeit; 3,1-5: Ausgießung des Geistes/Rettung Israels; 4,1-16: Vernichtung der Heiden; 4,17-21: Unheil über die Heiden/endzeitliche Errettung Jerusalems). Am Ende der Zeiten erfolgt dann der ‚heilige Krieg‘ (Joel 4,9) Jahwes gegen die Heiden. Zahlreiche Texte der Apokalyptik wurden im Laufe ihrer Tradierung weitergeschrieben und umgestaltet182. Motiv- und traditionsgeschichtlich fließen in der jüdischen Apokalyptik vor allem mit der Gestalt des Henoch verbundene und aus Ezechiel gespeiste Traditionen der Himmelsreisenden und Offenbarungsmittler sowie die vor allem mit Mose verbundene Sinaitradition ineinander.
Schreiber als Traditionsgaranten
Maßgebliche Träger der jüdischen Apokalyptik dürften die ‚Schreiber/Schriftgelehrten‘ gewesen sein, torakundige Gelehrte, zu deren Aufgaben die Auslegung der Tora, die Ausbildung von Schülern in der Tora und die Rechtssprechung nach der Tora zählten. Wahrscheinlich ab dem 4. Jh. v.Chr. bildete sich aus der Priesterschaft der Stand der ‚Schreiber/Schriftgelehrten‘, der in Esra seine idealtypischen Ursprünge sah (Esr 7,6.11: Esra als Schriftgelehrter und Priester). Jesus Sirach zeichnet um 180 v.Chr. ein Idealbild des weisen Schreibers/Schriftgelehrten (Sir 38,24–39,11), dessen Weisheit und Einsicht vor Gott und der Welt gelobt wird und der sich uneingeschränkt auf die Tora konzentriert. Die ‚Schreiber/Schriftgelehrten‘ gehörten in der Anfangszeit mehrheitlich zur niederen Priesterschaft, sie dienten der Tempelaristokratie (vgl. Sir 39,4), waren aber zugleich Träger der jüdischen Tradition und Wahrer der jüdischen Identität. Während sich die Tempelaristokratie – vor allem die Hohepriester und die ihm nahe stehenden Kreise der höheren Priesterschaft – der hellenistischen Assimilation öffneten oder sogar selbst Hellenisierung betrieben, distanzierte sich die Mehrheit der Schreiber/Schriftgelehrten davon183. Ihren Protest gegen die hellenistische Assimilierung formulierten Schreiber/Schriftgelehrte auch in Apokalypsen. So spricht Hen 12,4 („Henoch der Schreiber“) dafür, dass hinter der umfänglichen und über Jahrhunderte weiterentwickelten