Basiswissen Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Thomas Müller J.J.. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Müller J.J.
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846355787
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von Erziehung gemeint, zum anderen die Manipulierbarkeit von Kindern und Jugendlichen. Sozialpädagogische Fragen hatten lange Zeit keinen großen Stellenwert, obwohl diese bei genauerer Betrachtung wichtig für die Umsetzung des sozialistischen Grundgedankens gewesen wären. Erziehung und Bildung sollten universal vermittelt werden, um die Kosten möglichst niedrig zu halten und das Einheitsgefühl der Gesellschaft zu stärken. Sozial- und Rehabilitationspädagogik mussten sich der Volksbildung unterordnen. Ab 1965 entstand eine Verhaltensgestörtenpädagogik in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Erklärungen für Verhaltensstörungen wurden nicht anerkannt (Müller 2014, 224). Vielmehr führte man auffälliges Verhalten auf intra- und interpersonelle Gründe zurück, was einer reinen Schuldzuweisung an die betroffenen Kinder und Jugendlichen und deren Familien gleichkam. Man war zudem bestrebt, das Wissen in der Bevölkerung über die Existenz von Förderschulen möglichst gering zu halten, denn sie wurden als ein Eingeständnis für das Versagen des Schulsystems angesehen. Dennoch gab es „Sonderschulen mit Ausgleichsklassen für Verhaltensgeschädigte“, jedoch durfte diese Schulform nur von der zweiten bis zur vierten Klasse besucht werden. Wer auffällig wurde und sein Verhalten nicht unter Kontrolle bekam, war schnell ein Fall für Fremdunterbringung. Es gab ein hierarchisch aufgebautes System unterschiedlicher Institutionen, das sich nach der Schwere der Auffälligkeiten richtete. „Verhaltensabweichende“ Kinder und Jugendliche wurden per Zwangseinweisung aus ihrem „erziehungsunfähigen“ Umfeld genommen und sollten in Abgeschiedenheit diszipliniert werden. Deshalb waren alle Einrichtungen örtlich von Regelschulen getrennt und lagen teilweise an entlegenen Orten, um den Einfluss auf Regelschüler und die Aufmerksamkeit innerhalb der Gesellschaft zu minimieren. Von Einrichtung zu Einrichtung verschärften sich die Maßnahmen. Arbeitsmaßnahmen wurden härter, Freizeit weniger und Besuchszeiten seltener. Kinder und Jugendliche „wanderten“ von Aufnahmeheimen über Spezialheime zu Jugendwerkhöfen. Als ultima ratio galt der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau. Bereits in Aufnahme- und Spezialheimen herrschte extreme Strenge. Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau zeichnete sich zudem durch besondere Härte aus. Militärischer Drill war an der Tagesordnung, der Alltag war reglementiert, penibel getaktet und permanent überwacht. Gegen Regelverstöße wurde drastisch vorgegangen: Durch Kollektivstrafen sollte dem Einzelnen vor Augen geführt werden, was sein Fehlverhalten angerichtet habe. Arrest und Züchtigung wurden für geringste Vergehen verhängt. Der Strafe selbst, unter Nutzung des Kollektivs, wurde eine erzieherische Wirkung zugeschrieben (Beyer / Strobl / Müller 2016). Die Willkür der Erziehenden fällt dabei besonders ins Auge: Bei vielen Maßnahmen ging es nicht um Erziehung, sondern darum, den Willen zu brechen und die Individualität der Insassen zu unterdrücken. Gerade die praktizierten Strafen wie Nachtisolierung, Zwangssport und Essensentzug verdeutlichen die Verletzung von Menschenrechten. „Verhaltensabweichende“ Kinder und Jugendliche passten nicht ins sozialistische Weltbild. Ihre besonderen Bedürfnisse standen im Konflikt mit der angestrebten Kollektiverziehung. Deshalb wählte man den Weg der Umerziehung, welcher sich vor allem durch Exklusion, harte Arbeit und überzogene Strafen definierte.

      Fragen zum Verständnis:

      Wie versuchte man im Dritten Reich, die Euthanasie an verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen zu rechtfertigen?

      In der DDR war „Fremdunterbringung“ die Universallösung für „verhaltensabweichende“ Kinder und Jugendliche. Welches Verständnis von Verhaltensstörungen liegt diesem Vorgehen zu Grunde?

      Fragen zum erweiterten Verständnis und zur

      Vertiefung:

      Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche wurden in der NS-Zeit als „Asoziale“ bezeichnet und galten als „erbkrank“. Welche Rolle spielen soziale Einbindung und Vererbung jenseits von Ideologien für das Entstehen von Verhaltensauffälligkeiten?

      Warum bemühte man sich in der DDR nicht um alternative Bildungswege für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche?

      

Antworthorizonte als Online-Material verfügbar..

      

Grundlagenliteratur:

      Beyer, C., Strobl, C., Müller, T. (2016): „Hier kommste nicht raus“. Geschlossener Jugendwerkhof Torgau: Endpunkt erzieherischer Willkür der SED gegenüber verhaltensabweichenden Jugendlichen. Schneider, Hohengehren

      Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt der Ausbau eines vielgliedrigen Sonderschulwesens da an, wo er zuvor ins Stocken oder zum Erliegen gekommen war (s. thematische Skizze 3). Daher verbreiten sich auch Schulen für Erziehungshilfe in Deutschland mehr und mehr. Ausgangspunkt dieser Schulart waren Sonderklassen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Zürich und in Berlin als „Erziehungsklassen (E=Klassen) für schwererziehbare Kinder der Volksschule“ (Fuchs 1930) entstanden. Auch wenn unter anderer Terminologie („kriegsgeschädigt“), wurden dort vermutlich „traumatisierte“ Kinder und Jugendliche beschult, die nach einer Phase intensiver pädagogischer Begleitung in einem pädagogischen Schonraum wieder dem Regelschulunterricht folgen sollten. Die Idee des Durchgangs ist von Anfang an ein Prinzip der Schule für Erziehungshilfe. Alsbald entwickelten sich diese Klassen zum „Sammelbecken“ für alle möglichen Kinder und Jugendlichen, die durch ihr Verhalten aus dem Rahmen fielen und an den Regelschulen als unbeschulbar galten.

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      Thematische Skizze 3: Separation und Institutionen

      Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Bremen, Hamburg und Berlin Kleinklassen für kriegsgeschädigte Kinder gegründet (Klink 1962, 92). Bald wurden sie zu Institutionen für leicht erregbare, leistungsverweigernde und anderweitig schwierige Schülerinnen und Schüler. Mitte der 1950er Jahre wurden bundesweit Sonderschulen für Erziehungshilfe gegründet, die unter uneinheitlichen Bezeichnungen bestanden. Zudem wurden aus einigen Heim- bzw. Heimvolksschulen Schulen für Erziehungshilfe (Mau 1981). Dem Gutachten des Deutschen Bildungsrates, stärker integrativ statt weiter separierend zu beschulen, folgte die Kultusministerkonferenz nicht – stattdessen wurde 1972 die Bezeichnung „Schule für Verhaltensgestörte“ eingeführt und zudem entstanden sonderpädagogische Ambulanzen.

      Trotz Diskussion um die Schule für Erziehungshilfe (Myschker / Stein 2018, 356 f.) kam es nach der Wiedervereinigung zu einem Ausbau in Ostdeutschland. Sowohl in den „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland“ (KMK 1994) als auch in den „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung“ (KMK 2000, 24 f.) wird dies dargelegt. Ging es der Schule für Erziehungshilfe vormals eher darum, Fehlentwicklungen zu verhindern, stehen aktuell der emotional-soziale Förderbedarf und besondere Erziehungsbedürfnisse im Mittelpunkt: Kinder und Jugendliche sollen die Möglichkeit erhalten, sich mit ihren Verhaltens- und Erlebensweisen auseinanderzusetzen, lernen und sich bilden zu können. Mit Blick auf die Schulqualitätsforschung halten Opp / Wenzel (2003) fest:

      „Die Begegnung mit gefühls- und verhaltensgestörten Kindern erfordert neben erweitertem theoretischen Wissen und methodischem Repertoire auch die kontinuierliche Reflexion der eigenen Arbeit. […] Es geht darum, dass sich die Professionellen selbst und in kollegialen Zusammenhängen mit den Herausforderungen, Möglichkeiten und Grenzen, Zielen und Problemstellungen der eigenen Arbeit konfrontieren“ (Opp / Wenzel 2003, 34).

      Da die Schule für Erziehungshilfe von Beginn an als Durchgangsschule verstanden wird, werden Kinder und Jugendliche in einigen Bundesländern nur bis zur 6. Klasse oder aber erst ab einer bestimmten Jahrgangsstufe beschult, was aber bisweilen zu Anschlussschwierigkeiten führt.

      Schulen für Erziehungshilfe sollen Regelschulen von als störend empfundenem und auffällig erlebtem Verhalten entlasten. Damit geraten sie jedoch in die Gefahr der