Äußeres Zeichen der inneren Annäherung der Kontrahenten ist, so scheint es, im folgenden vierten Binnenabschnitt eine stichomythische Passage von hundert Versen (HaKl 1168–1268). Doch bei näherem Hinsehen ist diese Passage kein harmonisches Miteinander, sondern im Gegenteil der beschleunigte, dramatisch zugespitzte Dissens. ‚Stichomythie‘Stichomythie bezeichnet einen konsequenten Sprecherwechsel von Vers zu Vers. Sie erzeugt hier einen rasanten Schlagabtausch, der in seiner unaufgelösten Spannung abgekürzt paraphrasiert sei. Am Anfang der Passage steht die Versöhnungsbereitschaft des Leibes: herze, daz ist mir iemer leit, / unde büeze ez swâ ich sol (HaKl 1168f.). Doch er bleibt misstrauisch: ‚Woher kommt eigentlich, Herz, Deine Überlegenheit?‘(HaKl 1175). Das Herz reagiert verstimmt: ‚Was macht dich so aggressiv?‘ Der Leib: ‚Ich leide.‘ Das Herz: ‚Du bist krank?‘ Der Leib: ‚Nein, es ist eine andere Not.‘ Das Herz: ‚Tu etwas dagegen!‘ Der Leib: ‚Hilf mir dabei!‘ Das Herz: ‚Wobei?‘ Der Leib: ‚Spar dir deinen Spott. Ich leide und bin gesund.‘ Das Herz: ‚Das verstehe ich nicht.‘ Der Leib: ‚Du weißt es genau.‘ Das Herz: ‚Nicht, eh du mir’s sagst.‘ Der Leib: ‚Hast du kein Leid?‘ Das Herz: ‚Doch. Von ihr‘ (‚dâ twinget mich diu frouwe mîn.‘ HaKl 1208). Endlich verstehen beide, dass ihr Leid die gleiche Ursache hat (‚lîp, ist ouch dir daz?‘ ‚Leib, auch dir geht das so?‘ HaKl 1210), doch der Streit hört nicht auf. Denn der Leib besteht im selben Atemzug darauf, mehr zu leiden (so geloube mir, mich deste baz, HaKl 1209), und das Herz drängelt: ‚Dann sorg du dafür, dass etwas daraus wird‘ (‚sô schaf selbe daz ez ergê‘, HaKl 1212). Der Leib stimmt freundlich zu (‚das möge uns so geschehen‘), wird aber sogleich vom Herzen zurechtgewiesen: ‚Dein Wünschen bringt uns kein bisschen voran‘ (daz müeze uns beiden noch geschehen. / ‚dîn wünschen hilfet dich niht ein hâr.‘, HaKl 1256f.). Die Auseinandersetzung endet damit, dass der Leib den abschließenden Rat des Herzens annimmt, den Ernst seiner Bemühungen zu beweisen: ‚sô lâ dînen ernest wesen schîn.‘ ‚Beweis endlich, dass du es ernst meinst!‘ (HaKl 1263, wie bereits HaKl 738ff. und 801ff.) – als gäbe es Beweise für das, was sich nur in widersprüchlichen Symptomen zeigt, im steten Wechsel von Hoffnung und Zweifel (noch HaKl 1826–1830). Die Argumentation dreht sich im Kreis. Damit liegt auf der Hand: Die stichomythische Passage der ‚Klage‘ ist kein konsensorientierter Musterdialog, sondern Medium der Konfliktsteigerung.
Doch die Versöhnungsbereitschaft des Leibes am Ende des stichomythischen Psychodramas ermöglicht immerhin einen ausführlichen ‚Rat‘ des Herzens, eine Minnelehre. Sie wird als allegorischer Kräuterzauber (krûtzouber HaKl 1304) aus der Apotheke Gottes präsentiert (HaKl 1269–1348, vgl. Masse 2012) und verspricht das Gelingen der Balance göttlicher und weltlicher Ansprüche: ez ist bêdenthalp ein gewin, / got und diu werlt minnet in: / swer den selben zouberlist kan, / der ist zer werlte ein sælic man (HaKl 1345–1348). Magischer Liebeszauber hingegen verspiele das Heil für sêle unde lîp (HaKl 1366). Auch wenn diese Verse ausdrücklich eine religiös motivierte Versöhnung in Aussicht stellen, ist die Seele in Hartmanns ‚Klage‘ gerade nicht das einigende Band für Leib und Herz, sondern das, worin sie sich konfliktträchtig überschneiden. „Der Dialog von herze und lîp bringt […] zu keinem Moment der Rede zwei klar trennbare, miteinander konkurrierende Standpunkte hervor, sondern immer eine Verschränkung der Positionen“ (Strittmatter 2013:195f.). Hartmann erzählt keine trennscharfe (höfisch oder religiös dominierte) Anthropologie. Herz und Leib sind in instabiler Asymmetrie verbunden, was der Text auch metaphorisch über wechselnde Formen von Koordination (‚Partner‘, ‚Freunde‘, z.B. HaKl 121, 421, 978; Nussschale-Kern, HaKl 449–464; Wasser im Kessel, HaKl 465–484) bei gleichzeitiger Subordination durchspielt (Richter-Rächer, HaKl 69–71 und 417; Herr-Diener, HaKl 1961–1074; Lehrer-Schüler, HaKl 1252). Zugleich weist das vom Leib für die Minneüberwältigung vorgebrachte Gegenbild einer gefährlich unter dem Meeresspiegel verborgenen ‚Tiefenströmung‘ auf unkontrollierbare Risiken (HaKl 353–366 und 1803–1806) und eine unhintergehbare Intransparenz des Ich, die auch durch den Verweis auf die beiden gemeinsame Instanz der Seele (s.o.) oder den Appell zu gemeinsamer steter Dienstanstrengung – mit übereinstimmendem muot – nicht aufgehoben ist. Im Gegenteil: „Ab der stichomythischen Mittelachse beginnt die Klage, ihre Paradoxien zu restabilisieren“ (Gebert 2019:160). Ein nach innen und nach außen vil ungewisser wân (HaKl 1077) lässt sowohl das Ich am Erfolg seines Dienstes kategorisch zweifeln wie umgekehrt die Dame an dessen Aufrichtigkeit, und zur Auflösung dieses Zweifels bleiben nichts als Worte:
Sît ir daz gemüete mîn
alsô verborgen muoz sîn
daz sî es niht anders wizzen mac
wan als ich ir ez, sô man ie phlac,
mit worten bescheine
– so enweiz sî ob ich ez meine
mit rehten triuwen oder niht; (HaKl 1397–1403)
[…] da ihr mein Inneres so verborgen sein muss, dass sie davon nichts anderes zu wissen vermag als das, was ich ihr, wie man das stets zu tun pflegt, mit Worten zu erkennen gebe – weiss sie doch nicht, ob ich es aufrichtig ernst mit ihr meine oder nicht;
Die Beharrlichkeit des Dienstes spielt in der ‚Klage‘ also eine ambivalente Rolle, und nicht bloß in der Stichomythie. Zwar ist stæte auf der einen Seite ein Normbegriff: Der Dienst soll stæte sein, weil die Dame stæte ist. Doch führt er auf der anderen Seite als Zeitkategorie in Aporien, weil der stæte dienest ein vil ungewissez zil hat und gerade nicht mechanisch zu stetem Heil führt (vgl. Hartmann, MF 205,1, Strittmatter 2013:349–361), sondern am steten Widerstand der Dame scheitern kann. Unermüdlich, erst recht in den Schlussstrophen, wie sich gleich zeigen wird, appelliert das Herz an den Leib: ‚Dien’ ihr beständig, ausdauernd, nicht überstürzt!‘ (nu ensûme ez ouch ze deheiner frist, HaKl 1540), ‚Fang damit an, aber nicht zu schnell!‘ (Unrehtez gâhen sûmet dich, HaKl 1551). Alle Zeitimplikationen des Begriffs stæte werden bereits im dialogischen Teil paradox ausgefaltet – Dauer, Geschwindigkeit, Kontinuität –, und auch das überlegene Herz bleibt am Ende des Dialogteils noch und wieder im Zeitdilemma stecken: ‚Ich begreife nicht, warum die Dame ihren beharrlichen Verehrer immer so lang hinhält‘ (Welch wünne ein wîp dâ mite hât / daz sî ir friunt sô lange lât / an zwîvellîchen sorgen, / die sint mir gar verborgen, HaKl 1585–1588).