3. Vom Indoeuropäischen bis heute: Im Schnelldurchlauf durch die deutsche Sprachgeschichte
Die deutsche Sprachgeschichte wird klassischerweise in vier Perioden unterteilt: das Althochdeutsche, das Mittelhochdeutsche, das Frühneuhochdeutsche und das Neuhochdeutsche. Diese Periodisierung geht bereits auf Scherer (1878) zurück und hat sich als heuristisch wertvolle Untergliederung der deutschen Sprachgeschichte erwiesen. Dabei darf natürlich nicht vergessen werden, dass jede Periodisierung zwangsläufig willkürlich ist. Sprachwandel ist immer ein gradueller Prozess, und wenn wir das Jahr 1649 noch zum Frühneuhochdeutschen zählen, das Jahr 1651 hingegen zum Neuhochdeutschen, so bedeutet das selbstverständlich nicht, dass sich die deutsche Sprache im Jahr 1650 ganz plötzlich radikal verändert hat.
Gleichwohl gibt es natürlich Gründe, die Epochengrenzen so zu ziehen, wie Scherer es getan hat. Dabei lassen sich sprachinterne und sprachexterne Kriterien unterscheiden. Zu ersteren gehören beispielsweise „lautliche, morphologische und syntaktische Kriterien und Merkmale“ (Roelcke 2000: 370), zu letzteren unter anderem sozialgeschichtliche und kulturelle Faktoren. So fällt beispielsweise der Umbruch vom Alt- zum Mittelhochdeutschen mit der auch literaturgeschichtlich bedeutsamen Entwicklung der sogenannten höfischen Kultur zusammen. An der Schnittstelle von sprachinternen und sprachexternen Faktoren können die von Schmidt (2007: 17) zusätzlich angeführten soziolinguistischen Kriterien angesiedelt werden, zu denen beispielsweise das Verhältnis unterschiedlicher Varietäten zueinander gehört. Aufgrund der auch sprachlich höchst einflussreichen Entwicklungen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben, wird gelegentlich als weitere sprachgeschichtliche Epoche das Gegenwartsdeutsche angesetzt, dessen Beginn in der Regel in die Mitte des 20. Jahrhunderts datiert wird (vgl. Roelcke 1998b).
Alle genannten Bezeichnungen für die einzelnen Sprachepochen haben gemeinsam, dass sie aus drei Teilen bestehen – zum Beispiel: Alt, hoch und deutsch. Der erste Bestandteil bezieht sich auf die zeitliche Einordnung der jeweiligen Sprachstufe. Der zweite Bestandteil verortet sie geographisch. Mit dem Begriff hochdeutsch werden – im Gegensatz zum allgemeinen Sprachgebrauch, der hierunter die normierte Standardsprache versteht – die deutschen Dialekte südlich der sogenannten Benrather Linie bezeichnet, die von der 2. Lautverschiebung erfasst wurden (s.u. 4.1.1). Die Sprachbezeichnung deutsch schließlich geht zurück auf ahd. thiutisk, diutisk ‚das eigene Volk betreffend, volkssprachlich‘ (vgl. Sonderegger 1979: 40).
Die Geschichte der deutschen Sprache im engeren Sinne setzt in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ein (vgl. Schmidt 2007: 23). Aber natürlich entsteht die Volkssprache nicht über Nacht: Ihre Wurzeln lassen sich dank der komparativen Methode bis ins Indoeuropäische zurückverfolgen. Dieser Vorgeschichte der deutschen Sprache wenden wir uns nun zu, ehe wir genauer auf die einzelnen Sprachstufen des Deutschen eingehen. Dabei geben die einzelnen Unterkapitel einen Abriss über die wichtigsten Entwicklungen bezüglich Phonologie, Morphologie und Syntax in der jeweiligen Periode, ohne dass dieser Überblick auch nur annähernd vollständig sein könnte. Einen ausführlicheren Überblick bieten Werke, die sich dezidiert der systematischen und chronologischen Beschreibung der deutschen Sprachgeschichte widmen, z.B. Schweikle (2002) oder Schmidt (2007).
Einen schlagwortartigen Überblick über die genannten Sprachstufen sowie über die Sprachwandelprozesse, die in den nächsten Kapiteln vorgestellt werden, bietet Tab. 7.
Sprachstufe | Wandelprozesse im Überblick |
Indoeuropäisch (bis ca. 1. Jt. v. Chr.) | |
↓ | Phonologie Lautverschiebung (4.1.1) Wandel von Akzenttyp und Akzentposition (3.1.2) Primärberührungseffekt (3.1.2) Morphologie Entstehung schwacher Verben (3.1.2) |
Germanisch (bis ca. 200 n. Chr.) | |
↓ | Phonologie Hebung e > i vor Nasal + Konsonant (3.1.3, 4.1.2) wg. Hebung (i-Umlaut) und Senkung (a-Umlaut) (3.1.3, 4.1.2) Nasalschwund vor h und Ersatzdehnung des Vokals (3.1.3) wg. Konsonantengemination (3.1.3) wg. Rhotazismus (3.1.3) |
Westgermanisch (ca. 200–500) | |
↓ | Phonologie 2. Lautverschiebung (4.1.1) Primärumlaut (4.1.2) Sekundärumlaut (noch nicht verschriftet) (4.1.2) Monophthongierung, Diphthongierung, Diphthongwandel (3.4.1) Morphologie einsetzende Phonologisierung des Umlauts: Umlaut als morphologischer Marker (4.1.2) Syntax Kasussynkretismus: Wegfall des Instrumentalis (3.2.3) einsetzende Obligatorisierung des Subjektpronomens (3.2.3) einsetzende Fixierung der Wortstellung (3.2.3) |
Althochdeutsch (ca. 500–1050) | |
↓ | Phonologie Sekundärumlaut (4.1.2) Auslautverhärtung (3.3.1) ahd. /sk/ > mhd. /ʃ/ (3.3.1) fortschreitende Reduktion der vollen Nebensilbenvokale (3.3.1) Aufkommen des Glottisverschlusslauts (3.3.1) Morphologie Phonologisierung des Umlauts: Umlaut als morphologischer Marker (4.1.2) Formenzusammenfall durch Nebensilbenabschwächung (3.3.2) Erweiterung des Bestands an Wortbildungssuffixen (3.3.2) Syntax Entstehung neuer periphrastischer Verbformen (Perfekt, Passiv) (3.3.3) (weitere) Obligatorisierung des Artikels und des Subjektpronomens (3.2.3) |
Mittelhochdeutsch (ca. 1050–1350) | |
↓ | Phonologie Monophthongierung, Diphthongierung, Diphthongwandel (3.4.1) Vokaldehnung und -kürzung (3.4.1) Palatalisierung /s/ > /ʃ/ im Anlaut (3.4.1) Degemination langer Konsonanten (3.4.1) Morphologie Präteritaler Numerusausgleich im System der starken Verben (3.4.2, 5.1.1) Morphologisierung des Umlauts / analogischer Umlaut (4.1.2) Neue Lehnwortbildungsmuster (3.4.2) Syntax (Weiterer) Ausbau des klammernden Verfahrens (6.1.2) Stellungswechsel des adnominalen Genitivs (des Vaters Haus > das Haus des Vaters) (6.1.1) Herausbildung des werden-Futurs (8.1.3) Abbau der doppelten Negation (3.3.3) |
Frühneuhochdeutsch (ca. 1350–1650), Neuhochdeutsch (ab 1650) |
Tab. 7: Überblick über einige der wichtigsten Wandelprozesse, die in den folgenden Kapiteln vorgestellt werden. Die Angaben in Klammern verweisen auf das jeweilige Kapitel.
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