Sozialisation. Herrmann Veith. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herrmann Veith
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846330043
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sind –eine für andere Gesellschaften unvorstellbare Form des In-der-Welt-Seins. Wir senden starke Ich-Botschaften, wenn wir uns über objektive Sachverhalte unterhalten. Wir fordern die Anerkennung unserer persönlichen Rechte, wenn wir uns mit anderen über soziale Praktiken verständigen und sprechen mit großer Ernsthaftigkeit über unsere subjektiven Erlebnisse. Auch das ist in anderen Kulturen keineswegs selbstverständlich. Ganz offenbar bewegen wir uns, in dem, was wir tun und denken, in gesellschaftlich vorgespurten Bahnen. Wir haben im praktischen Miteinander gelernt, wie „man“ sich verhält und was „man“ wie gebrauchen darf. In einigen Fällen geschieht dieses, wie in der U-Bahn, ganz indirekt und beiläufig, in anderen werden konkrete pädagogische Absichten und Verhaltenserwartungen wirksam.

      Tatsächlich bilden und entwickeln sich unsere Handlungsfähigkeiten und damit in Verbindung unser Selbst- und Weltverständnis in den unterschiedlichen sozialen Praktiken, in die wir vom ersten Lebenstag an eingebunden sind: Kaum ist man geboren, wird man gemessen und gewogen. Während die Eltern noch damit beschäftigt sind, das Individuelle an ihrem Kind zu entdecken, hat die Verwandtschaft längst das Familientypische ausgemacht: „Die Fingerchen hat sie von der Oma, die Haarfarbe von Opa, als er noch jung war.“ Die Bekannten interessieren sich für das Geschlecht und kommentieren den Namen, das Klinikpersonal überwacht den Gesundheitszustand, die Behörden bescheinigen die Geburt, der Stadtanzeiger will ein Foto und die Babybranche wirbt mit ihren Begrüßungsgeschenken um Kundschaft. So folgen alle Abläufe einer bestimmten Ordnung, und jeder macht sich gemäß der Eigenlogik des Sozialsystems, dem er sich zugehörig fühlt, sein ganz spezielles Bild von dem Neuankömmling.

      Wie Säuglinge dieses rührige soziale Treiben und Einbinden um sie herum erleben, lässt sich – auch aus wissenschaftlicher Sicht – nur hypothetisch rekonstruieren. Können Babys ihre Mitmenschen schon als Personen erkennen oder empfinden sie nur ihre eigenen, mit ersten sinnlichen und kulturellen Bedeutungsfragmenten angereicherten leiblichen Aktivitätszustände? Klar ist aber, dass ihnen die Welt durch ihre Bezugspersonen nahe gebracht wird. Im wechselseitigen Geben und Nehmen der ersten Lebensmonate lernen sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, wie man sich in der Gegenwart anderer sinnvollerweise verhält. Sie übernehmen die körperlichen Bewegungsschemata ihrer Handlungspartner und stellen sich mit ihrem ganzen Organismus physisch, psychisch und pragmatisch auf ihre Umwelt ein. Als Kleinkinder entwickeln sie sodann ganz allmählich die Fähigkeit, ihr eigenes Verhalten an den Absichten und Erwartungen ihrer Handlungspartner auszurichten und die elementaren Ordnungszusammenhänge ihrer Lebenswelt zu verstehen. Sie entdecken physikalische Kausalzusammenhänge, soziale Regelmäßigkeiten und kulturelle Sinnstrukturen. Je mehr die Heranwachsenden dabei lernen, ihre eigenen Tätigkeiten zu reflektieren und selbstbestimmt zu handeln, desto komplexer werden die Formen der sozialisatorischen Auseinandersetzung mit der Umwelt und der eigenen Person.

      Definition

      Von Sozialisation spricht man in diesem Zusammenhang, weil sich die Persönlichkeit mit ihren Sprach- und Handlungsfähigkeiten stets unter historischen Kulturbedingungen in gesellschaftlich strukturierten Lebenswelten entwickelt.

      Dieses Buch richtet sich an all diejenigen, die einen ersten, aber nicht oberflächlich bleibenden Einblick in die Grundfragen der Sozialisationsforschung gewinnen möchten. Das ist deshalb nicht ganz einfach, weil sich dieses Forschungsfeld quer über den gesamten Bereich der sozial- und humanwissenschaftlichen Disziplinen erstreckt. Darüber hinaus gibt es kein einheitliches Theoriekonzept, sondern viele verschiedene, sich teilweise auch widersprechende Erklärungsansätze. Warum das so ist, wird deutlich, wenn man sich das Ziel der modernen sozialisationstheoretischen Diskussion vor Augen führt.

      Kernaussage

      Sozialisationstheoretiker wollten und möchten verstehen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen die Verinnerlichung sozialer Normen individuelle Autonomie ermöglicht, oder aber zur Entwicklung eingeschränkter Handlungsfähigkeiten führt.

      Ausgehend von der Frage, warum in den Sozialwissenschaften nicht nur von Entwicklung, sondern von Sozialisation die Rede ist (Kapitel 1), wird ein analytisches Rahmenmodell beschrieben (Kapitel 2), mit dessen Hilfe das Zusammenspiel von gesellschaftlichen und individuellen Entwicklungsbedingungen anschaulich dargestellt werden kann. Darauf aufbauend werden in den Kapitel 3, 4 und 5 die unterschiedlichen Vergesellschaftungspraktiken in den wichtigsten Sozialisationskontexten – Familie, Schule und Peergruppe – skizziert. Ein kleiner Exkurs zur Rolle der Medien leitet über zu den Grundfragen der Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung (Kapitel 6). Was dabei als „normal“ gelten kann, ist, wie in Kapitel 7 gezeigt werden wird, keineswegs selbstverständlich. Zur Weiterbeschäftigung mit den angesprochenen Themen findet sich am Ende eines jeden Kapitels ein Informationsteil mit allgemeinen Literatur- und Websiteempfehlungen. Im Glossar schließlich werden einige für das Thema Sozialisation wichtige Grundbegriffe erklärt.

      Kernaussage

      Wer im Erziehungs- und Bildungsbereich beschäftigt ist, übernimmt für andere Menschen Verantwortung. Die Entscheidungen, die in der pädagogischen Praxis zumeist schnell und vor allem zielsicher getroffen werden müssen, bedürfen dabei stets der fachlichen Begründung und Legitimation. Zur professionellen Planung, Beurteilung und Auswertung von Handlungsstrategien in den unterschiedlichen Praxis- und Berufsfeldern ist deshalb theoriegeleitetes Wissen über den Sozialisationsprozess unerlässlich.

      1

      Warum sind wir zur Selbstbestimmung gezwungen?

      Gesellschaften benötigen zu ihrer eigenen Stabilität und Erneuerung handlungsfähige Personen. Moderne Sozialsysteme sind dabei in besonderer Weise auf eigenständige, verantwortungsbewusst und reflexiv agierende Individuen angewiesen. Die zur Teilhabe am sozialen Leben wichtigen Kompetenzen können durch Sozialisation und Bildung erworben werden. Allerdings gibt es dafür keine Garantie.

      Kernaussage

      Auch unter günstigen äußeren Lebensumständen sind biografische Risikoentwicklungen möglich und umgekehrt können Menschen in schwierigen Verhältnissen durchaus alltagstaugliche Handlungsfähigkeiten und Subjektautonomie entwickeln. Dieses hängt unter anderem damit zusammen, dass der Sozialisationsprozess von den sich entwickelnden Subjekten selbst aktiv mitgestaltet wird.

      Es gibt keine kausale Determination der Person durch die Umwelt. In fast allen einschlägigen Veröffentlichungen werden heute deshalb ausdrücklich die Eigenaktivitäten des Individuums bei der Aneignung kultureller Wissensbestände, sozialer Normen und alltagspraktischer Handlungsroutinen hervorgehoben (Geulen 2005, Grundmann 2006, Zimmermann 2006). Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen die entsprechenden konzeptionellen Grundlagen der modernen Sozialisationsforschung. Ausgehend von einer begriffsgeschichtlich angelegten Problembeschreibung werden das Sozialisationskonzept konkretisiert und die wichtigsten Bezugstheorien genannt. Schließlich wird begründet, warum sozialisationstheoretisches Wissen praktisch nützlich ist.

      Am Anfang war das Wort

      Der Begriff „Sozialisation“ leitet sich wortgeschichtlich aus dem englischen Verb „to socialize“ ab. Dieses findet sich erstmals 1828 im Oxford Dictionary in der Bedeutung von „to render social, to make fit for living in society“ (Clausen 1968, 21). Da man Begriffe besser versteht, wenn man den Kontext kennt, in dem sie verwendet werden, soll zunächst kurz beschrieben werden, wie das Wort Sozialisation alltagssprachlich aufkam und in die wissenschaftliche Diskussion einsickerte.

      1. Das Wort „Sozialisation“: Bekanntermaßen hat die Industrialisierung in England deutlich früher eingesetzt als in anderen Staaten. Mit der Auslagerung der gewerblichen Produktion aus den Hauswirtschaftsbetrieben entwickelten sich überall neue Formen der Arbeitsteilung. Im Räderwerk der dampfgetriebenen Maschinen und mechanisierten Fabrikanlagen wurden – bildlich gesprochen – die traditionellen Lebensordnungen der agrarständischen Welt zerrieben. Die moderne Zeitordnung war nicht mehr zyklisch wie das Kalenderjahr, sondern linear, zukunftsgewandt und fortschrittsorientiert. Dabei war es immer weniger möglich, die zur Lohnarbeit benötigten Kompetenzen im alltäglichen Miteinander zu erlernen. Um „fit“ zu werden, und das hieß ganz elementar, um die eigenen individuellen Existenzgrundlagen sichern zu können, war es auch im gesellschaftlichen