PRIMAT DER NEGATIVITÄT
An den Strategien, die die Ressentimentpersönlichkeit zum Umgang mit den selbstbildbedrohenden Verwerfungen entwickelt, ergibt sich zuletzt auch, dass das Ressentiment ein ausschließlich negatives Phänomen ist: ihm fehlt jede konstruktive Kapazität, jede positive, hervorbringende, lösungsorientierte Dynamik. Es führt nicht zur Diagnose der eigentlichen, sehr realen Probleme und zur Analyse der ihnen zugrundeliegenden Ursachen hin zu möglichen Lösungsansätzen – es ist ein Grundzug des Ressentiments, genau diesen Vorgang zu unterbrechen. Was es stattdessen ›hervorbringt‹, sind Scheinprobleme und -ursachen sowie deren scheinbare Lösungen. Doch an diesen Konstruktionen ist schlechterdings nichts konstruktiv.
Die realen, zumeist tief im eigenen Selbst grundgelegten, ursächlichen Problemlagen und Urkonflikte werden oft als derart überwältigend empfunden, ebenso die eigene Ohnmacht – sodass es aussichtslos scheint, real an ihnen etwas ändern zu können. Auf die Scheinprobleme des Ressentiments lassen sich demgegenüber meistens die leichteren Antworten finden und die bequemeren Lösungen; sie bestätigen den Ressentimentalen in seinem Grundgefühl und in seinen grundlegenden Bedürfnissen, und fordern ihn gerade nicht heraus, sich darin kritisch selbst zu hinterfragen und womöglich zu korrigieren; sie folgen der überzeugenderen, weil primär emotiven inneren Logik, und erzeugen den deutlich effektvolleren Rausch der wilden Affektabfuhr. Die wesentlich nicht auflösbare Spannung zwischen den Ressentimentaffekten auf der einen Seite und der Ohnmacht, diese auszuagieren auf der anderen, lässt den psychischen Druck schließlich so sehr ansteigen, dass er sich jenseits der konstruktiven Arbeit an den ursächlichen Problemen Wege des Druckabbaus sucht. Das Ressentiment ist wesentlich eine Fehlfunktion der psychischen Bewältigungsstrategien und -mechanismen. Es ist die Antithese zu einem konstruktiven Umgang mit den eigenen Aporien. Seine rein negative Potenz richtet sich nicht gegen die Krankheit selbst, sondern gegen deren Symptome, und zielt nicht auf Heilung, sondern auf (zeitweilige) Linderung. Damit bewirkt es aber letztlich die Eskalation der eigentlichen Probleme und Konflikte und die Chronifizierung der eigenen Leiden – die wiederum, als dessen Ursache und Ursprung, das Ressentiment stärken. Das Ressentiment befreit nicht von der Wirklichkeit – es ist vielmehr ein Vorgang, in welchem zwar »Wirklichkeit negiert ist, aber entstellt, unkenntlich wiederkehrt und sich folglich umso hartnäckiger unbewußt durchsetzt«.73 So potenzieren sich dessen transformative Kräfte und beschleunigt sich die ressentimentale Überformung der Persönlichkeit – bis der Kreis des selbstzündenden Ressentimentmechanismus schließlich geschlossen ist. Es gehört zur Perfidität des Phänomens, das als Kur auszugeben, was die Krankheit erst in ihr Endstadium hinein steigert. Der restlos negative, restlos unkonstruktive Zug des Ressentiments erweist sich so als integraler Bestandteil der Ressentimentbildung und -stabilisierung.
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