Auf den ersten Blick ähneln Maury und Fran sich nicht: Der eine ist jung, beliebt, energisch und durchsetzungsfähig; der andere ist sozial unbeholfen, passiv und leicht zu verletzen. Fran ist manchmal körperlich gewalttätig, Maury hingegen nicht. Aber sind sie so unterschiedlich, wie sie scheinen? Oder haben beide unter der Oberfläche tatsächlich die gleichen Probleme, die ihr Verhalten bestimmen? Dies sind einige der Fragen, auf die wir in den folgenden Kapiteln Antworten finden werden.
Betrachten Sie einen weiteren Bericht von Laura:
Paul ist ein toller Kerl. Wir sind etwa sechs Monate miteinander gegangen und leben jetzt schon seit mehreren Monaten zusammen. Wir sind verlobt. Er tut mir so leid. Seine Ex-Frau beschuldigt ihn, sie misshandelt zu haben, das ist jedoch eine totale Lüge. Er hat einen Fehler gemacht, nämlich, dass er sie betrogen hat, und sie ist wild entschlossen, ihn dafür zu bestrafen. Sie wird vor nichts zurückschrecken. Jetzt sagt sie sogar, er sei gewalttätig, und sie behauptet, er habe sie ein paar Mal geschlagen und ihre Sachen zerbrochen. Das ist doch lächerlich! Ich bin jetzt seit über einem Jahr mit ihm zusammen und ich kann Ihnen sagen, er ist überhaupt nicht so. Paul hat nie auch nur die Hand gegen mich erhoben. Er hat vielmehr versucht, mir zu helfen, mein Leben in Ordnung zu bringen, und er war wirklich für mich da. Als ich ihn kennenlernte, ging es mir schlecht, ich war deprimiert und ich trank zu viel, und jetzt geht es mir durch ihn so viel besser. Ich hasse diese Schlampe, weil sie ihm diese Dinge vorwirft. Wir werden gemeinsam daran arbeiten, das Sorgerecht für seine Kinder zu bekommen, denn sie ist außer Kontrolle geraten.
Laura fragte sich, wie Pauls Ex-Frau einen so reizenden Mann der Misshandlung beschuldigen konnte. Sie war darüber so wütend, dass sie mehrere Warnzeichen in ihrer eigenen Beziehung zu Paul nicht bemerkte.
Wenn Kristen, Barbara und Laura sich zusammensetzen und ihre Aufzeichnungen vergleichen würden, würden sie feststellen, dass ihre Partner nicht unterschiedlicher sein könnten. Die Persönlichkeiten der drei Männer scheinen Meilen voneinander entfernt zu sein, und ihre Beziehungen gehen sehr unterschiedliche Wege. Doch Maury, Fran und Paul haben tatsächlich weit mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick sieht. Ihre Launen, ihre Ausreden, ihre Einstellungen – sie alle sprudeln aus derselben Quelle. Und alle drei sind missbrauchende Männer.
Die Missbrauchstragödie
Missbrauch in Beziehungen betrifft eine unvorstellbar hohe Zahl von Frauen. Selbst wenn wir Fälle von rein verbaler und psychischer Misshandlung beiseitelassen und nur die körperliche Gewalt betrachten, sind die Statistiken schockierend: Laut dem Bundeskriminalamt (BKA) wird jede Stunde eine Frau Opfer einer Körperverletzung durch ihren Partner. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend berichtet, dass jede dritte Frau irgendwann in ihrem Leben Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner wird. Die emotionalen Auswirkungen von Gewalt durch den Partner sind ein wesentlicher Faktor bei Selbstmordversuchen und eine der Hauptursachen für Alkohol- und Drogenmissbrauch bei erwachsenen Frauen. Kriminalstatistiken zeigen, dass fast jeden dritten Tag eine Frau in Deutschland von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet wird und dass diese Morde fast immer eine Vorgeschichte von Gewalt, Drohungen oder Stalking haben.
Die Misshandlungen von Frauen sind schockierende Erlebnisse im Leben von Kindern. Millionen von Kindern werden jedes Jahr Zeuge eines Angriffs auf ihre Mütter – eine Erfahrung, die traumatisierend wirken kann. Kinder, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, zeigen öfter auffälliges Verhalten in der Schule, haben Aufmerksamkeitsprobleme, sind aggressiv, leiden unter Depressionen und flüchten sich in Drogenmissbrauch als Ausdruck ihrer kindlichen Not. Gewalt gegen Frauen ist Studien zufolge die Ursache für etwa ein Viertel der Scheidungen von Paaren mit Kindern und führt in ca. der Hälfte der Fälle dazu, dass das Sorgerecht angefochten wird.
So alarmierend dieses Bild auch ist, wir wissen auch, dass körperliche Übergriffe nur ein Aspekt der Misshandlungen sind, denen Frauen ausgesetzt sein können. Es gibt Millionen weitere Frauen, die nie geschlagen wurden, die aber mit wiederholten verbalen Übergriffen, Demütigungen, sexuellem Zwang und anderen Formen des psychischen Missbrauchs leben, oft begleitet von wirtschaftlicher Ausbeutung. Die Narben von erlittenen seelischen Grausamkeiten können so tief und lang vorhanden sein wie Wunden von Schlägen oder Ohrfeigen, sie sind aber oft nicht so offensichtlich. Tatsächlich berichten mehr als die Hälfte der Frauen, die körperliche Gewalt durch einen Partner erlebt haben, dass die emotionale Misshandlung durch den Mann ihnen den größten Schaden zufügt.
Die Unterschiede zwischen dem verbal misshandelnden Mann und dem körperlichen Angreifer sind nicht so groß, wie viele Menschen glauben. Das Verhalten beider Täterarten hat die gleichen Wurzeln und wird von den gleichen Gedanken getrieben. Männer beider Kategorien folgen ähnlichen Veränderungsprozessen beim Überwinden ihres missbräuchlichen Verhaltens – falls sie sich ändern, was leider nicht der Normalfall ist. Außerdem gibt es nicht immer eindeutige Kategorien. Körperlich angreifende Männer beleidigen ihre Partnerinnen auch verbal. Psychisch grausame und manipulative Männer neigen dazu, nach und nach auch körperliche Einschüchterung einzusetzen. In diesem Buch werden Sie Täter in einem Spektrum antreffen, das von denen, die nie Gewalt anwenden, bis zu denen, die wahrlich Furcht einflößend sind, reicht. Das Ausmaß ihrer Gemeinsamkeiten wird Sie vielleicht erschrecken.
Eine der Schwierigkeiten, chronische Misshandlungen in Beziehungen zu erkennen, ist, dass die meisten misshandelnden Männer einfach nicht wie Missbrauchstäter wirken. Sie haben viele gute Eigenschaften, auch Phasen, in denen sie freundlich, herzlich und humorvoll sind, vor allem in der ersten Zeit einer Beziehung. Die Freunde eines Täters mögen große Stücke auf ihn halten. Er ist vielleicht erfolgreich im Beruf und hat keine Probleme mit Drogen oder Alkohol. Er mag einfach nicht in das Bild eines grausamen oder einschüchternden Mannes passen. Wenn eine Frau also das Gefühl hat, dass ihre Beziehung außer Kontrolle gerät, ist es unwahrscheinlich, dass sie ihren Partner als Misshandelnden wahrnimmt.
Die Symptome der Misshandlung sind da, und die Frau sieht sie in der Regel: eine eskalierende Häufigkeit von Herabsetzungen. Die frühere Großzügigkeit wandelt sich mehr und mehr zu Egoismus. Verbale Ausbrüche, wenn er gereizt ist oder wenn er sich nicht durchsetzen kann. Ihre Beschwerden werden ständig gegen sie selbst gerichtet, als wäre alles ihre eigene Schuld. Seine Einstellung wächst, dass er besser als sie weiß, was gut für sie ist. Und es entsteht in vielen Beziehungen ein wachsendes Gefühl der Angst oder Einschüchterung. Aber die Frau sieht auch, dass ihr Partner ein Mensch ist, der manchmal fürsorglich und liebevoll sein kann, und sie liebt ihn. Sie möchte herausfinden, warum er sich so aufregt, damit sie ihm helfen kann, den ständigen Wechsel von Höhen und Tiefen zu durchbrechen. Sie wird in die Komplexität seiner inneren Welt hineingezogen und versucht, Hinweise aufzudecken, indem sie einzelne Aspekte hin und her bewegt und versucht, ein kompliziertes Puzzle zu lösen.
Besonders verwirrend sind die Stimmungsschwankungen des Täters. Er kann von Tag zu Tag oder sogar von Stunde zu Stunde eine völlig andere Person sein. Manchmal ist er aggressiv und einschüchternd, sein Ton ist hart, seine Worte sind äußerst demütigend und beleidigend, sein beißender Spott und Zynismus ohne Grenzen. Wenn er sich in diesem Modus befindet, scheint nichts, was sie sagt, eine Wirkung auf ihn zu haben, außer dass es ihn noch wütender macht. Ihre Perspektive zählt in seinen Augen nichts, und alles ist ihre Schuld. Er verdreht ihre Worte, sodass sie immer in die Defensive gerät. So viele Partnerinnen meiner Klienten haben mir gegenüber beklagt: „Ich kann einfach nichts richtig machen.“
In anderen Momenten klingt er verwundet und verloren, sehnt sich nach Liebe und nach jemandem, der sich um ihn kümmert. Wenn diese Seite von ihm auftaucht, wirkt er offen und bereit zur Heilung. Seine Wachsamkeit scheint nachzulassen, sein hartes Äußeres wird weicher und er kann die Eigenschaft eines verletzten Kindes annehmen, schwierig und frustrierend, aber liebenswert. Wenn seine Partnerin ihn in diesem entmutigten Zustand erlebt, fällt es ihr schwer, sich vorzustellen, dass er sie jemals wieder misshandeln wird. Die Bestie, die ihn zu anderen Zeiten beherrscht