Das Tagebuch der Jenna Blue. Julia Adrian. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Julia Adrian
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783959913065
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gebar eine Tochter, die sie hegte und pflegte, während die Stieftochter sämtliche Aufgaben im Haus übernehmen musste und mehr einer Magd denn einem Kinde glich. Man munkelte, hätte die Zauberin das Stiefkind wie ein eigenes behandelt, wäre sie ihrem Schicksal entronnen. So jedoch erfüllte sich der Fluch des Todgeweihten durch die Geburt einer dritten Tochter. Kaum hielt sie das«, Scarlett stockt merklich, »das ungewollte Kind in den Armen, da erkannte die Zauberin, dass dieses Glück, Schönheit und Freude im Überfluss besaß, während die Erstgeborene daneben verblasste.« Scarlett sieht zu mir, die nächste Zeile rezitiert sie frei: »So besaß die Zauberin fortan drei Töchter: eine Glücksmarie, eine Pechmarie und ein Aschenputtel.«

      Ich bete, dass sie nicht weiterblättert. Dass sie denkt, auf den folgenden Seiten würde das Märchen weitergehen. Noch tiefer kann ich sie nicht blicken lassen.

      »Lass uns tauschen«, schlägt Scarlett da vor und das Buch zu; ihre Lust am Vorlesen ist vergangen. Ob die Worte ihren ureigenen Ängsten zu nahe gekommen sind? Wir mögen unterschiedliche Rollen einnehmen, doch wir spielen im selben Stück. »Gib mir die Tasche, dann bekommst du es zurück.« Fordernd streckt sie die Hand aus.

      Die Tasche gegen das Buch.

      Verblassende Erinnerungen gegen meine intimsten Gedanken.

      Welcher Verlust schmerzt mehr? Ich kralle die Finger um den veilchenblauen Riemen. Der Stoff duftet längst nicht mehr nach Mutter, zu oft habe ich die Tasche des Abends aus der Kiste unter dem Bett befreit, sie an mein Gesicht gedrückt und mich in ihre Umarmung geflüchtet. Doch ihr Duft ist verflogen wie das Gefühl ihrer Arme. Jetzt weiß ich weder, wie sie sich anfühlte, noch wie sie einst roch. Alles, was von ihr bleibt, ist diese Tasche. Meine Finger ertasten die Stickerei blind. Vergissmeinnichtblüten nebst hellgrünen Blättern. Das Futter im Innern trägt denselben Ton, der an taubedeckte Frühlingswiesen erinnert, an die leuchtende Unterseite von Birkenblättern, die sich in der Sonne räkeln. Ich kann sie nicht hergeben – und doch bleibt mir keine Wahl, wenn ich mein Tagebuch zurück möchte.

      Mich überkommt eine so große Mattigkeit, dass ich die Augen schließe. Der Zorn zerfließt, ich kann ihn nicht halten. Ich stelle mir vor, was Anna sagen würde, wäre sie hier. Gewiss bäte sie darum, Scarlett die Tasche auszuhändigen. Um des Friedens willen. Sie hat niemals meine Partei ergriffen, in keinem der endlosen Streite, die auf Mutters Verschwinden folgten. Sie hat bloß warnend meine Hand gedrückt und mir zugeflüstert: Die Stärkere gibt nach.

      Nur fühle ich mich nicht stark.

      Ich fühle mich unendlich schwach.

      »Also? Was meinst du?« Scarlett schafft es sogar, zu lächeln. Und wie sie so vor mir hockt und das Licht ihres Smartphones in meinen Augen sticht, weiß ich, dass ich ihr unterlegen bin. Ich kann nicht gewinnen. Nicht wenn ich mich so klein fühle, mich bewusst kleinmache. Unsichtbar. Wie des Nachts, wenn ich ihr folge …

      Ich hebe den Blick und die Worte springen hervor, dass ich sie des Nachts beobachtet habe. Einem Sturzbach gleich zerstören sie die zart keimende Nähe, die wir auf dem Dach zueinander fanden. Bruchstücke aus geteilten Erinnerungen, getauschte Worte und der gemeinsame Schmerz, all das löst sich unwiederbringlich auf, es zerfällt ins Nichts. Bis nur noch wir zwei da sind.

      Fremde bis aufs Blut.

      Scarlett rollt zurück auf die Fersen. »Beobachtet?«

      Ich nicke kaum merklich, mein Mund ist staubtrocken.

      »Wie ausgesprochen unartig von dir.« Sie erhebt sich und steht einen Moment über mir wie ein Racheengel. »Zu schade. Das hätte ein schöner Abend werden können. Wir zwei, wiedervereint.« Der Bass des Autoradios ebbt ab, das Lied endet, ein neues erklingt. »Nun, da ich nicht bekomme, was ich will, kriegst du es ebenso wenig.«

      Ehe ich sie aufhalten kann, holt sie aus – und die Dunkelheit schluckt mein Buch. Ich höre es flattern, als die Seiten aufreißen, doch ich sehe nicht, wohin es fliegt. Wohin sie es wirft. Sie reibt sich die Handflächen am Rock ab, als müsste sie sich von meinen Worten befreien.

      »Traust du dich hinüber?«, ist alles, was sie sagt, ehe sie im fahlen Licht des Displays entgleitet und ich entsetzt begreife, dass sie es hinübergeworfen hat. Über die Mauer. In den Garten der Spukvilla. Dorthin, wo sich niemand hintraut – und wer es tat, ist heute tot.

      Die Musik schwingt klarer durch die Nacht, als Scarlett das Auto von Derek erreicht und die Tür öffnet. Ich höre sie zuschlagen, die Klänge abstumpfen, den Motor starten. Der Kies knirscht, als er wendet. Dann brausen sie davon.

      Die Villa der Toten

       Das also ist er, der Moment der Wahrheit, an dem sich die Heldin entscheiden muss, dem Ruf des Abenteuers zu folgen, alles zu wagen und dabei alles zu verlieren. Sonst wäre es keine Geschichte, die zu lesen sich lohnt.

       Wer ist nun die Heldin?

       Bist du es? Oder bin ich es?

       Da ich diese Zeilen schreibe, liegt es an mir, die Rollen zu verteilen und die Wahrheit zu offenbaren.

       Meine Wahrheit. Nicht deine.

       Sei mutig, wage den Sprung hinein in den unheilvollen und toxischen Garten der Zauberin, in dem die Ursprünge dieser Geschichte lange vor unserer Zeit gesät wurden. Es liegt an uns, die Früchte zu ernten. Die guten wie die faulen.

      19

      Unser Kräutergarten liegt brach. Anna hat ihn vernachlässigt. Der Borretsch wuchert in den Wegen und sein typisches Gurkenaroma streift meine Nase, kaum dass die Stängel unter meinen Sohlen knicken, ebenso der Duft der Melisse, die ich auf der Suche nach dem Klinker der Werkstatt streife. Ich folge mit den Fingerspitzen den Rillen im Gemäuer bis zur Tür. Es riecht vertraut, kaum dass ich sie aufstoße, nach altem Holz und Leim und längst vergangenen Tagen, bittersüß, fast schon faulig. Der Kompost für die Gartenabfälle liegt direkt unter dem Fenster, das sich als einziges öffnen lässt. Ich taste die Wand neben der Tür ab, suche den Lichtschalter, finde und drehe ihn.

      Die Glühbirne flammt knisternd auf. Ihr Glas ist so verstaubt wie die grau gepuderten Gerätschaften über der Werkbank, die nur der Form halber erinnern, wozu sie einst taugten. Ich stoße gegen einen Tontopf, er kippt von der Bank, schlägt auf und zerschellt in tausend Teile. Ich lausche atemlos in die Hütte hinein, doch nichts regt sich. Kein Laut, kein Geräusch, kein Rascheln, kein Wispern. Dennoch wirkt die Stille weniger tief; als wäre etwas in ihr erwacht und ich nicht länger mutterseelenallein.

      Nervös halte ich nach der Leiter Ausschau, deshalb bin ich hier. Ich brauche sie, um auf die Mauer und in den Garten zu klettern. Dort hinten, halb verdeckt von Kisten und Säcken, ragen die Sprossen auf. Ich schiebe mich zwischen den Türmen aus Tontöpfen hindurch, sorgsam darauf bedacht, keinen weiteren zu zerbrechen. Jeder Laut, so fürchte ich, könnte die Toten auferstehen lassen aus ihren modrigen Gräbern.

      Modrig riecht es auch hier.

      Ich greife nach dem Hebel des Fensters; er lässt nur widerwillig zu, dass ich die Scheibe aufdrücke und die Nacht hineinlasse. Die Hütte ächzt im Windzug, als würde sie frösteln. Ich schlinge die Arme um mich, den Blick fest auf die Leiter gerichtet. Sie war einst blau, im Dämmerlicht wirkt sie vergilbt wie eine Sepiafotografie, ebenso die von der Decke baumelnden Gießkannen. Ich ziehe den Kopf ein, um mich nicht zu stoßen, und entdecke dabei ein Weinfass unter einer steifen Plastikplane. Es ist, als würde ich nicht nur das Fass, sondern auch die Erinnerung daran freilegen.

      Wir kauften es an einem warmen Frühlingstag, hievten es in den Kofferraum und klappten die Rückbank um, damit es hineinpasste; ich durfte vorn neben Papa sitzen, das Fenster bis zum Anschlag hinabgekurbelt und das Radio voll aufgedreht, während der Wind an meinen Haaren zog und die Sonne mit uns um die Wette strahlte.

      Ich