Reichtum verpflichtet. Hannelore Cayre. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hannelore Cayre
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783867548335
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… Statt ihm alles durchgehen zu lassen und ihn in die Obhut dieser verrückten Tante Clothilde zu geben, sollten Sie hart durchgreifen! Denn wenn er sich in den Kopf setzt, den Pöbel mit seinen großen Wahrheiten vom Schönen, Wahren und Gerechten zu erbauen … Wenn man ihn Ihnen auf den Brettern eines Ochsenkarrens in Stücken aus Paris zurückbringt … Dann werden alle hier weinen … alle außer mir! Außerdem habe ich es satt, diesen Leibeigenenfraß zu essen, wenn Monsieur uns mit seinem Besuch beehrt!«

      Damit warf Ferdinand sein Besteck aufs Tischtuch und verließ die Tafel.

      Jules betrachtete zweifelnd seinen Teller. »Stimmt, ohne Speck ist diese Suppe nicht sehr schmackhaft!«

      Hastig sammelte der junge Mann die wenigen Dinge ein, die er mitgebracht hatte, und verließ im Sturmschritt das Haus, um nicht den Zug zu versäumen, der ihn nach Paris zurückbringen würde. Als er jedoch am Bahnhof die Menge sah, die sich in der Rotunde drängte, stellte er fest, dass viele Ausflügler die Sonne genutzt hatten, um sich die verschneite Landschaft anzuschauen. Er würde für die Heimfahrt folglich keinen Platz in der ersten, vielleicht nicht einmal in der zweiten Klasse finden. Blieb die dritte Klasse, auch wenn er nicht warm genug gekleidet war, um sich zu den Knechten und Arbeitern im Wagon ohne Dach zu gesellen.

      Hier, in dem ironischerweise von Casimir de Rigny erbauten Bahnhof, war die gesamte französische Gesellschaft im Miniaturformat versammelt. Eine Frau in Holzpantinen, beladen mit einer Brut schmutziger Kinder, teilte die Bank mit einer vornehmen Dame, die in Begleitung ihres Dienstmädchens und ihres püppchenhaften Sprösslings von einem Ausflug nach Hause fuhr. Ein biederer Gatte aus Saint-Germain-en-Laye, der in Paris Ablenkung von der ehelichen Monotonie suchen wollte, überließ seinen Platz einer jungen Tänzerin der Opéra Comique, die zu ihrem alten Gönner zurückkehrte. Ein Haufen Milliardärsanwärter und junge Künstler mit Taschen voller Meisterwerke trafen am Bahnhof auf ihre abgehalfterten Doppelgänger, die Paris verwünschend auf dem Heimweg waren. Auch die Diebe waren mit von der Partie und spähten hier nach einer unbeaufsichtigten Handtasche, dort nach einer hervorlugenden Geldbörse …

      Dies ganze Theater war meilenweit entfernt von Augustes Sorgen, der sich bereits tot sah, unsinnigerweise allein, sein Leib inmitten eines Feldes auf ein preußisches Bajonett gespießt.

      Kaum öffneten sich die Türen, wurden die Abteile gestürmt. Der junge Mann, der sein Billett in letzter Minute gekauft hatte, endete wie vorhergesehen im Wagon der dritten Klasse. Er verbrachte den Anfang der Reise eingekeilt zwischen zwei kräftigen Arbeitern, die nach Schweiß stanken und sich an dieser Nähe zu einem parfümierten Jüngling ergötzten. Bei der Ankunft in Pecq schließlich hatte man Mitleid mit ihm, denn er war blau vor Kälte, man ließ ihn den Wagen wechseln und verfrachtete ihn in die zweite Klasse. Dort wärmte er sich auf, tauchte ein in einen Schwarm junger Mädchen, die von ihren Müttern gescholten wurden. Sie kamen von einer Verabredung mit verlockenden Partien aus Saint-Germain-en-Laye, und trotz der vorab verschickten Fotografien, der Zugbilletts, der Investitionen in Kleider und Haarbänder war man zu keinem Abschluss gekommen. »Nein, wirklich, alles nur, weil ihr nicht das Eure tut!«, tadelten die Mütter. Die Mädchen hörten nicht zu; bis zum Eintreffen in der Gare Saint-Lazare begnügten sie sich damit, Auguste unter Kichern verstohlen zu mustern.

      1

      Ich hatte den TGV kaum bestiegen, da kotzte mich schon alles an.

      Da ich Tuchfühlung nicht mag, setze ich mich nie an den mir zugewiesenen Platz, wo meine Beine die meines Sitznachbarn berühren, ganz zu schweigen vom Kampf um die Armlehne. Ich ertrage es nicht. Da ziehe ich die Klappsitze im Bereich zwischen den Wagons vor, auch wenn man da selten seine Ruhe hat, weil er oft von Idioten überrannt wird, die ihn nutzen, um die Sau rauszulassen, oder von Alten, die sofort nach der Abfahrt anrufen, um zu sagen, dass sie gleich da sind … Jetzt hör ich dich nicht mehr, hörst du mich noch?

      An diesem Tag waren es vier Mädels, die einem Rap-Clip entsprungen waren und sich aus allen Blickwinkeln fotografierten. Aus Neugier checkte ich auf Instagram #TGVParis-Brest, wie sie sich idealisierten, was sie auf dem Großmarkt der Verführung im 21. Jahrhundert an Attributen auffuhren. Aber inmitten dieser Bilder von Mädchen im Modus rausgestreckter Hintern, heißer Schmollmund, zu allen denkbaren Stimulationen bereit, hatte jemand eine heimliche Aufnahme von mir gepostet, wie ich sie beobachtete. Ich in meinem schwarzen Minikleid mit Taschen, meiner Bomberjacke, meinen eingerüsteten Beinen und meinen hochhackigen Halbstiefeln, verloren in einem Gewölk farbenfroher Gänse. Krasse Fehlbesetzung. Emily the Strange zu Gast auf einer Nuttengeburtstagsparty.

      Und obendrein zog ich so eine Fresse …

      Man muss dazusagen, ich war nicht in Topform. Man hatte mich krankgeschrieben, weil ich mich um ein Haar von einem Métrozug hatte zweiteilen lassen, und zu allem Überfluss war ich unterwegs zum lästigsten aller Frondienste, dem fünfundachtzigsten Geburtstag meines Vaters.

      Und die Reise war weit von ihrem Ende entfernt: In Brest angekommen, standen mir noch eine Stunde Bus- und anderthalb Stunden Bootsfahrt bei aufgewühlter See bevor. Und da ich im Voraus wusste, dass ich trotz der ultimativen Schinderei, die diese Langstreckenfahrt bedeutete, nur stören würde, kann man sich vorstellen, wie motiviert ich war.

      Ich kannte das Drehbuch auswendig: Bei meiner Ankunft würde mein Vater so tun, als freute er sich, mich zu sehen, nur um mir nach den landläufigen Banalitäten vom Typ Hast du unterwegs was gegessen? War viel los auf dem Boot? Wann fährst du wieder? nichts mehr zu sagen zu haben. Ich würde antworten: Und du, geht’s dir gut?, wohl wissend, dass ich damit die Beschwerdeschleusen öffnete. Omi Soize und ich nennen das die kaleidoskopische Klage: Sätze, die für sich genommen und in neutralem Ton gesprochen rein informativ wirken – Weißt du, ich war beim Arzt … Morgens, wenn ich esse, wird mir schwindelig … Man wird Dédé die Füße und Hände abnehmen wegen der Diabetes – und die in Kombination das grausige Motiv des Schicksals ergeben, das ihm bevorsteht. Er klopft eine Weile auf den Tisch, und zack, fügt sich alles neu zusammen und es geht von vorne los … Und das Ätzendste ist, es findet kein Ende.

      In Brest regnete es zur Abwechslung mal. Eine biblische Sintflut, horizontal wegen des Winds vom Meer, der Ihnen ins Gesicht peitscht, sobald Sie den Fuß aus dem Zug setzen. Dort auf dem Bahnsteig sah ich sie das erste Mal, die drei aus Paris. Wobei man sie auch nicht übersehen konnte, wie sie in ihren hübschen wasserabweisenden Regenmäntelchen dem Sturzregen zu trotzen versuchten. Zwei haarige Hipster, einer davon mit Brille, und eine große schmucklose junge Frau mit seidigem langem Haar.

      Ich humpelte, so schnell es mir möglich ist, zum Busbahnhof und stieg in den nach nassem Hund stinkenden Bus. Sofort überfielen mich die Alten: Wie lang ist das her! Du bist ja bleich wie ein Arsch! Und wo ist überhaupt deine Tochter? Und blablabla … Zum Glück verpasst man sich in dieser Gegend nicht vier Küsschen, sondern nur eins, denn ich musste mich durch den ganzen Mittelgang arbeiten … Da schlossen sich vor der Nase der drei tropfnassen Pariser die Türen, was niemanden groß tangierte, denn der Bus ist vorrangig für Inselbewohner auf dem Heimweg reserviert.

      Am Hafen stiegen alle in einer einzigen Bewegung aus und strömten in den Hafenbahnhof, um im Trockenen aufs Einschiffen zu warten.

      Meine alte Freundin Tiphaine war da, sie saß auf einer Bank und stauchte gerade ihre Kinder zusammen, sie sollten aufhören, den Kaffeeautomaten zu misshandeln. Beim Anblick ihrer Jüngsten wurde mir klar, dass ich eine Ewigkeit nicht mehr hier war, um meinen Vater zu besuchen. In meiner Erinnerung war sie ein Baby, dabei war sie ein kleines Mädchen mit Wuscheldutt, das breitbeinig dastand und mich anstarrte, während ich mich zwischen sie und ihre Mutter schob.

      Ich küsste meine Freundin, und beim Umarmen ihres üppigen runden Körpers dachte ich in einem Erkenntnisblitz, dass meine Insel mir gefehlt hatte.

      Normalerweise, wenn man alte Bekannte nach langer Trennung wiedersieht, fühlt man sich etwas unbehaglich, wie gefangen in einer Verbindung, die nicht immer leicht zu erneuern ist, aber bei den Leuten hier ist das nie der Fall. Ich denke, es liegt daran, dass das Inselleben unsere Familien seit Jahrhunderten zweigeteilt hat, die Männer bei der Marine oder auf einem Handelsschiff