Selbst die täglichen Gebrauchsgegenstände wie Waschzeug usw. blieben zurück.
Große Mengen Porzellan, viel Silbersachen und Wäsche, die auch liegen gelassen wurden, haben die anschließend hier untergebrachten Flüchtlinge mitgenommen.
Was Mutter und wir Kinder später in diesem Jahr, nachdem wir aus dem Schoberhof rausgeworfen worden waren, dringend als Tauschobjekte für Lebensmittel gebraucht hätten, hat unser Popanz (wie er in Berlin auch genannt wurde) einfach neben meinem Mercedes obendrein zurückgelassen, wie diese Abschrift zeigt: 3 Kisten Bestecke, 14 Schreibmaschinen, 3 Pakete Kunstmappen, 1 Zimmer mit Kunstgegenständen, 1 Liegestuhl.
Der Herr Generalgouverneur hat seine Verzweiflung in Alkohol ertränkt: kein eigenes Reich mehr! Nur noch Reichsminister ohne Portefeuille! Nur noch den Schoberhof als Rückzugsquartier. Sicher hat er im Suff auch mit seiner vergoldeten Pistole herum geschossen, lallend immer wieder seinen Führer ebenso hochleben lassen wie dessen Wunderwaffen, von denen alle schwärmten. Andererseits muss es in ihm gepocht haben: Jetzt, wo ich kein Generalgouverneur mehr bin, kann ich doch endlich Lilly heiraten!
»Alle heben jetzt ihr Glas, und wir trinken gemeinsam auf die große Liebe meines Lebens, auf meine Lilly!« Alle soffen aufs Wohl und vergaßen mit immer höheren Promillewerten im Blut ihre desolate Lage. Mich erinnert das immer an die letzte Abend-Tafel der Nibelungen auf Krimhilds und Etzels Burg, bevor die allgemeine Metzelei begann.
Doch die Nibelungen waren Ehrenmänner.
Bei aller Völlerei vergaß mein Vater nicht die Kultur. Zum einen besuchte er zwischendurch, halbwegs nüchtern, seinen verehrten Freund Gerhart Hauptmann in dessen Agnetendorf, zum anderen, wie mir Jahrzehnte später sein Chauffeur Schamper berichtete, ließ er des Nachts die kostbarsten Kunstwerke in einem speziellen Lastwagen verstauen, sodass er später in seinem Dienstsitz im Neuhauser Josefstal seinen von ihm so benannten »Andachtsraum« einrichten konnte: Dort hingen dann die zwei Rembrandts, der Raphael und Leonardo da Vincis Dame mit der Ratte.
»RACHE FÜR UNSERE GRAUSAMKEITEN«
Während sich ihr Vater die Zukunft genehm soff, machte seine älteste Tochter eine damals typische Reise durch ein zusammenbrechendes Reich. Am 3. Februar verfasst sie den für mich eindrucksvollsten Brief ihres Lebens, weil er nicht nur einen Blick in ihre – durch den Verlust ihrer großen Liebe, den Doktor, wie sie ihn im Brief nennt – verwundete Seele gibt, sondern auch die damaligen Zustände und Menschen glänzend beschreibt:
Meine liebe Mutti!
18 Tage habe ich nun auf der Eisenbahn zugebracht. Für Strecken von 100 km waren wir 3 Nächte und 2 Tage unterwegs. Wir hatten ein Öfchen im Abteil, und die nötigen Kohlen klauten wir uns dazu. Alle Fenster waren kaputt, und wir verbauten die Fensterhöhlen notdürftig mit Matratzen. Während der ganzen Fahrt kamen wir nicht aus den Mänteln, und Waschgelegenheiten konnten nur selten aufgetrieben werden. So wurden wir mit der Zeit die reinsten Mohren. Als wir endlich an unserem Bestimmungsort anlangten und eine ganze Nacht auf den zugigen Bahnsteigen als Gepäckwachen zugebracht hatten, stürzten wir dann sofort in die nächste Fabrik, um uns dort im Waschraum wieder halbwegs zu reinigen. Noch nie bereiteten mir heißes Wasser und Seife und anschließend frische Wäsche solche Freude und riefen in mir ein so wohliges leichtes Gefühl hervor, wie damals. Nach nochmaligen langen Warten konnten wir endlich todmüde unser Quartier beziehen, und nachdem wir unsere Strohsäcke gestopft hatten, schliefen wir – viel, mehr wollten wir schlafen, denn in dieser Nacht kamen unangemeldet Verwundete in unsere Schule, und wieder hieß es packen und zum Bahnhof marschieren. So geht es immer hin und her, und langsam rücken wir immer näher der Heimat. Von Vati erhielt ich einen Brief. Er ist glücklich in Seichau gelandet, und ich war so froh, dass es ihm gut geht. – Ach Mutti, ich bin so unglücklich! Vom Doktor habe ich noch keine Nachricht. Ich weiß gar nichts von ihm. Posen ist eingeschlossen. Die Stimme des Radiomannes ist mir furchtbar: »Die Besatzung Posens verteidigt heldenmütig!« Ach, liebe Mutti, ich bin so traurig, an nichts anderes kann ich mehr denken. Ich hab ihn ja so lieb! Überall hier ist Elend und Flucht – wie überhaupt nirgends etwas Tröstliches zu finden ist. Keine Arbeit haben wir. Immer nur rumsitzen und denken müssen. Ach ich möchte nur noch einmal seine liebe Stimme hören, aber ich weiß ja recht gut, dass auch, wenn ihm nichts passiert, zwischen uns alles aus ist. – Ich kann meine Kameradinnen nicht verstehen, während ich heulen könnte und verzweifle, nicht nur wegen meines persönlichen Kummers, so sitzen jene und lachen, rennen ins Kino und flirten mit Soldaten. Vielleicht wäre es besser, auch so zu sein wie sie, über einem letzten Rausch noch einmal das Leben in vollen Zügen zu genießen und die Gegenwart zu vergessen. Aber ich kann es nicht. Ich kann auch nicht mehr beten, was kann und darf Gott uns helfen. Eine sehr einstimmige Meinung herrscht hier über die Folgen und Ausmaße des jetzigen Krieges, besonders sehen alle darin die Rache für unsere Grausamkeiten den Juden gegenüber. Man wundert sich sehr. Sie rufen Heil Hitler!, hören gespannt die Hitlerreden, und die meisten von ihnen haben doch einen sehr klaren Blick. Vor einigen Tagen ging das Gerücht, wir würden alle auf Nimmerwiedersehen entlassen werden. Aber es stellte sich dann heraus, dass wir zum größten Teil gar nicht nach Hause fahren können, da die Russen zwischen uns und der Heimat stehen. Ich bin gar nicht weit von Seichau entfernt, aber ich darf nicht zu Vati fahren und möchte es auch nicht sehr gern. Ich könnte nicht mit Vati jetzt über Dinge sprechen, die mich nicht im Geringsten mehr interessieren. Mein einziges Ziel, auf das all meine Gedanken gerichtet sind, ist nur noch, den Doktor und Euch alle noch einmal gesund beisammen zu sehen und eine glückliche Zukunft vor Augen bei Euch sein zu können. Ich bin völlig verlaust und sehr erkältet. Aber das alles ist ja so nebensächlich.
Ich umarme und grüße Dich herzlich
Deine Sigrid
Der für mich erschreckendste Satz ist dieser: Eine sehr einstimmige Meinung herrscht hier über die Folgen und Ausmaße des jetzigen Krieges, besonders sehen alle darin die Rache für unsere Grausamkeiten den Juden gegenüber.
Da ist kein: Und stell Dir vor, Mutti, die sagen hier, wir hätten den Juden was angetan! Weißt Du davon was?
Nein, die Kenntnis wird vorausgesetzt – weil sie es alle wussten hierzulande! Erst nach der totalen Kapitulation am 8. Mai 1945 setzte die große Verdrängung ein, die bis heute unsere Psyche schlaucht und mich meinen Volksgenossen gegenüber sehr misstrauisch gemacht hat.
Schon einen Tag vor Sigrids Brief ist Hans Frank, aus Bad Aibling von seiner Lilly kommend, in Neuhaus am Schliersee eingetroffen und hat im Josefstal seine neue Dienststelle bezogen. Wo er auch wohnt. Brigitte erfährt es, auch wir Kinder wissen es. Ich kann mich allerdings nicht mehr daran erinnern. Gitti und Michel, 8 und 10 Jahre alt, leiden: Der Vater lebt in zwei Kilometer Entfernung und will uns nicht mal sehen!
Zunächst muss er dort für seine wohnliche Ausstattung sorgen. So schreibt sein Kunstbeauftragter Palézieux an einen Herrn Sylvester Hupfloher in München am 21. Februar 1945: Ich fordere Sie hiermit auf, folgende in Ihrer Verwaltung befindlichen Gegenstände aus dem Besitz des Herrn Generalgouverneurs jederzeit zur Abholung durch einen von ihm Ermächtigten bereitzuhalten.
Ein Radioapparat, italienisches Fabrikat
Eine Auto-Pelzdecke, gezeichnet H.F.
Ein Herrenfahrrad mit elektronischer Beleuchtung
Ein Damenfahrrad
Eine holzgeschnitzte Figur (Johannes)