Keiner von beiden hatte Lust, Olivers älterem Halbbruder zu begegnen, der ebenfalls in der Werkstatt arbeitete. Kevin kannte keine Skrupel und hatte ihm einmal die Freundin ausgespannt. Auch Carolin hatte er bereits angebaggert. Auf eine Wiederholung konnten sie gerne verzichten.
»Was macht ihr am Wochenende?«, wechselte Sonja das Thema. »Ich wette, etwas Interessanteres als ich.«
»Wir werden einfach nur ausspannen. Und du?«, erkundigte sich Carolin.
»Ich muss heim zu meinen Eltern. Mama hat für Samstagabend mal wieder eine ihrer berühmt-berüchtigten Cocktailpartys angesetzt. Eine stinklangweilige Angelegenheit, bei der Tom und ich Anwesenheitspflicht haben. Ich wette, sie hat wieder potenzielle Heiratskandidaten für uns eingeladen.« Sie verzog das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, während es Mario einen Stich gab.
»Ich bin am Sonntag bei meinen Eltern zum Mittagessen eingeladen«, berichtete er. Oliver nickte.
»Ja, genau, da leihst du dir ja mein Auto.« Die Freunde nickten sich zu. »Dann werden wir wohl den Sonntag zu Hause verbringen.« Er küsste Carolin zärtlich auf den Hals und es war allen klar, was er mit ihr vorhatte.
2. Kapitel
Sonja strich sich die offenen Haare hinter die Ohren und straffte den Rücken, nachdem sie aus ihrem kleinen roten Smart gestiegen war. Ihr graute vor dem Nachmittag und dem darauffolgenden Abend. Während ihre Mutter bei solchen Cocktailpartys in ihrem Element war und sie in vollen Zügen genoss, fehlte ihr dieses Gen offenbar. Leider hatte sie auch nicht die Geduld, die ihr Vater und ihr Bruder bei solchen Gelegenheiten an den Tag legten. Es war ihr schlichtweg zuwider, mit Leuten, die sie nicht kannte und mit denen sie nichts verband, Small Talk zu betreiben. Es gab vieles, was sie lieber getan hätte: Mit Carolin und ihren Nachbarn ins Kino zu gehen, wäre ganz oben auf der Liste gestanden, aber auch andere Tätigkeiten hätte sie diesem gesellschaftlichen Ereignis vorgezogen. Schmunzelnd fragte sie sich, was ihre Mutter dazu sagen würde, wenn sie wüsste, dass sie lieber im Tierheim die Katzenklos putzen würde, in dem sie ehrenamtlich arbeitete, als hier die Rolle der wohlerzogenen Tochter aus gutem Hause einzunehmen. Sie hätte selbst niemals für möglich gehalten, wie viel Befriedigung es ihr verschaffte, die Tiere zu versorgen, ihnen ein paar Streicheleinheiten zukommen zu lassen und dem hoffnungslos überlasteten Personal zur Hand zu gehen. Die Hunde mochte sie, aber die vielen heimatlosen, oft verängstigten, verwahrlosten oder einfach nach Liebe hungernden Katzen hatten es ihr besonders angetan. Am liebsten hätte sie alle mit nach Hause genommen, aber Tiger und Kitty betrachteten die kleine Wohnung, in der sie seit Kurzem mit Carolin lebte, als ihr Revier und hätten mit weiteren Mitbewohnern vermutlich wenig Freude.
Während sie die Stufen zur Eingangstür hochstieg, überlegte sie, wie viele hilfsbedürftige Vierbeiner in der riesigen Villa und dem parkähnlichen Garten ihrer Eltern Platz hätten. An Geld für Futter und tierärztliche Versorgung würde es ebenfalls nicht mangeln, aber Sonja war sicher, dass sie ihrer Mutter damit nicht zu kommen brauchte.
Sie durchquerte die Eingangshalle. Der Boden war frisch poliert und glänzte noch mehr als sonst. Unwillkürlich lächelte sie.
»Hallo! Du bist ja überraschend gut gelaunt«, sprach ihr Bruder sie an, der soeben aus dem Salon kam, wie ihre Mutter das riesige Wohnzimmer manchmal halb im Scherz nannte.
Sonja zog als Antwort eine Grimasse. »Hey! Nicht wirklich. Mir ist nur gerade eingefallen, wie cool das war, als wir auf Strümpfen durch den Raum geschlittert sind, wenn Mama nicht daheim war.«
Nun grinste auch er. »Ja, das war lustig. Erinnerst du dich daran, dass du einmal gegen eine Stehlampe gestoßen bist und sie umfiel? Der Keramikfuß ist in unzählige Teile zerbrochen.«
Sie verdrehte die Augen. »Oh Gott, war das ein Theater!«
»Papa war so glücklich, als das scheußliche Ding kaputt ging.«
»Ist nicht wahr!«
»Doch, Ehrenwort!« Er legte die Finger der rechten Hand auf sein Herz.
»Dann habe ich also ein gutes Werk getan«, stellte sie lachend fest und schüttelte den Kopf. »Manchmal wünschte ich, noch das unbeschwerte Kind von früher zu sein. Bis zu einem gewissen Grad hatten wir doch Narrenfreiheit. Das ist jetzt vorbei.«
Eine aufgeregte weibliche Stimme näherte sich und Sonja bemühte sich, das Gesicht nicht so unwillig zu verziehen, wie ihr zumute war. Die zehn nächsten Stunden war Maske angesagt.
»Wie schön, dass du pünktlich bist«, begrüßte ihre Mutter sie wohlwollend. »Bist du hungrig? Gaby hat bestimmt einen Happen für dich.«
»Nein, danke. Wenn du mich nicht für die Vorbereitungen brauchst, werde ich zuallererst meinen Kleiderschrank inspizieren, damit ich das perfekte Outfit für heute Abend finde.«
»Mach das, Liebes. Ich habe hier alles unter Kontrolle.« Sie machte eine elegante, alles umfassende Handbewegung. Früher, als Kind, hatte Sonja vor dem Spiegel diese grazilen Bewegungen ihrer Mutter nachzuahmen versucht, doch sie hatte immer das Gefühl gehabt, ein kleiner Tollpatsch zu sein. Besonders, wenn durch ihr ungestümes Verhalten mal wieder etwas zu Bruch ging. Während sie in den ersten Stock hinaufging, fiel ihr die Stehlampe wieder ein. Ihr Papa war viel bodenständiger und sie war sicher, dass er sich ganz anders einrichten würde, als ihre Mutter das tat. Doch auch wenn er in der Klinik der hochgeachtete und allgemein respektierte ärztliche Leiter war, zu Hause hatte sie das Sagen. Doch erst in letzter Zeit, seit sie an Oliver dasselbe Verhalten Carolin gegenüber beobachtete, war ihr klar geworden, dass sich ihr Vater nicht aus Schwäche, sondern aus Liebe zu seiner Frau so verhielt. Ihre beste Freundin vor Glück leuchten zu sehen, verstärkte ihre Sehnsucht, selbst so ein liebevolles Gegenstück zu finden. Sie war sicher, dass es nichts brachte, danach zu suchen, sondern dass es sie wie ein Blitz treffen würde, wenn ihr Mr. Right endlich vor ihr stand. Bisher war das allerdings noch nie passiert.
In ihrem Zimmer ließ sich Sonja mit dem Rücken auf ihr Bett fallen und blieb dort ein paar Minuten liegen, während sie an die Decke starrte. Seit sie nicht mehr hier wohnte, fiel es ihr noch schwerer, in ihre Rolle zu schlüpfen. Es fühlte sich an, als müsste sie sich in eine zu eng gewordene Hülle zwängen. Seufzend trat sie in ihren begehbaren Kleiderschrank. Ein Bewegungsmelder schaltete das Licht ein, das den kleinen Raum gut ausleuchtete. ›Was habe ich denn bei der letzten Hausparty getragen? Ich darf auf keinen Fall zweimal hintereinander das Gleiche anziehen! War es das dunkelblaue oder das moosgrüne Kleid?‹, überlegte sie. Ein anderes aus dunkelrotem Satin sprang ihr förmlich in die Hand. Ihr fiel ein, dass ihre Mutter dieses Kleid an ihr liebte, und obwohl sie selbst die Farbe nicht ganz so sehr mochte, beschloss Sonja, dass es die richtige Wahl sein würde. Fast eine Stunde war sie damit beschäftigt, ihre glatten, seidigen Haare hochzustecken, die sich immer wieder selbstständig machten. Sie schminkte sich dezent, aber sehr sorgfältig, wie ihre Mutter das von ihr erwartete. Auch wenn sie sich in der Pubertät heftige Kämpfe mit ihr geliefert hatte, wäre ihr nicht im Traum eingefallen, sie bei einem solchen Fest zu blamieren.
Drei Stunden später war die Abendveranstaltung in vollem Gange. Fünfundzwanzig bis dreißig elegant gekleidete Menschen verschiedenen Alters standen in Grüppchen zusammen, einige wenige hatten sich auf der Wohnlandschaft niedergelassen. An einer Seite des Raumes war ein Buffet mit feinen Häppchen aufgebaut.
»Das Catering hat sich diesmal selbst übertroffen«, stellte Tom zufrieden fest und schob sich den Rest eines Brötchens mit Fischmousse in den Mund, das mit einem Blättchen Petersilie und rotem Kaviar garniert war. Sonja nickte. Sie kaute gerade genüsslich an einer raffiniert gewürzten Garnele.
»Ganz hervorragend«, bestätigte Matthias, der neben ihr stand. »Wie immer, wenn eure Eltern ein Fest geben. Und die Villa ist einfach ein Traum. So elegant!« Er lächelte Sonja an. »So wie du! Absolut perfekt!«
Sie verdrehte innerlich die Augen. Sie kannten sich von Kindheit an, weil ihre Väter gemeinsam die Klinik gegründet hatten. Ihr Vater war der ärztliche Leiter, Herr Magister Fankhauser kümmerte