„Wo soll denn das Blut sein?“ Elisabeth deutete auf die roten Tropfen. Da es inzwischen zu dämmern begonnen hatte, holte der größere Polizist eine Taschenlampe aus dem Wagen, um die Spur zu beleuchten.
„Das sieht nicht nach dem Blut eines Menschen aus. Es dürfte Katzenblut sein –und für den Tierschutz sind wir nicht zuständig.“ Der andere, kleinere Polizist nickte nur. Doch dann sah er die Gelegenheit gekommen, den Fall loszuwerden, ohne ein lästiges Protokoll schreiben zu müssen: „Selbst wenn auf die Katze geschossen wurde, sind wir als Stadtpolizei dafür nicht zuständig, sondern unsere bayerischen Kollegen.“
„Das kann doch nicht wahr sein! Georg, das lassen wir uns nicht gefallen!“ „Was wollen wir denn unternehmen, wenn es sich so verhält, wie die Herren sagen?“ „Das Fahrrad wird nicht von einer Katze gefahren worden sein“, zischte sie ihrem Mann – ihm zugewandt – zu.
Der kleinere Polizist fühlte sich durch diese Bemerkung auf den Arm genommen: „Sie sollten sich genau überlegen, was Sie sagen. Wenn Sie uns unterstellen, Rad fahrende Katzen für möglich zu halten, erfüllt das den Tatbestand der Beamtenbeleidigung.“ „Lass es gut sein, Elisabeth“, versuchte Georg seine vorwitzige Frau zu beruhigen.
Der kleine Schutzmann trat zwei Schritte vor. „Hören Sie auf Ihren Mann und sehen Sie von einer Anzeige ab. Dann vergessen wir auch die Beleidigung.“
Das Anrücken der Polizei hatte Aufsehen erregt. Aus einigen Fenstern schauten die Nachbarn neugierig herunter. „Gerch, was ist denn los?“ rief es aus dem zweiten Stockwerk. Georg zog den Kopf ein, er fühlte sich ab jetzt verantwortlich für die zu befürchtenden Gerüchte. Und ausgerechnet in einer solchen Situation sollte er den „Gerch“ verabschieden?
Er war schon im Hausflur und wollte – wie es seine Art war – die Tür nicht lautstark ins Schloss fallen lassen, sondern leise schließen, als eine lindgrüne Limousine auf der gegenüberliegenden Straßenseite langsam an Morlocks Laden in Richtung Hauptbahnhof vorbeifuhr. „Das sieht nach Elisabeths Straßenkreuzer aus. Ich muss mir das Kennzeichen merken!“ In dieser Absicht zog er die Tür so weit zurück, dass er freien Blick auf die Rückansicht des Wagens hatte, der schon fast wieder die Höhle des Celtis-Tunnels erreicht hatte. „Das sind die typischen Schwanzflossen eines Cadillac!“ Ein Kennzeichen war in der beginnenden Dunkelheit des Abends aber nicht mehr zu lesen.
3. Erpressung zweier Zeugen
Johann (Hans) Weiß, ehemaliger Leiter der Jugendabteilung beim „Club“ – wie der „Erste Fußballclub Nürnberg“ (1. FCN) unter Fußballanhängern auch außerhalb Frankens genannt wird – hatte im Frühjahr 1949 zusammen mit Max Morlock die „Totoannahme Weiß-Morlock“ am Celtisplatz 2 eröffnet. Zum „Sporthaus“ erweitert, war das allgemein als „Lottoladen“ bezeichnete Geschäft Anfang der fünfziger Jahre in die Pillenreuther Straße 23 umgezogen. 1950 hatte Morlock Inge Weiß, die Tochter seines Kompagnons, geheiratet.
Am Morgen des 5. Juli 1954 war Hans Weiß noch früher als sonst auf den Beinen, um den Laden zu öffnen. Er erwartete einen Ansturm von Gratulanten und erhoffte sich gute Umsätze. Als er in das Hinterzimmer ging, um einen Besen zu holen, bemerkte er zu seiner Überraschung, dass einige Zeitungen, Magazine und Kalender anders neben- und übereinander lagen als am Samstag. Er konnte sich das Durcheinander nicht erklären. Unruhig schaute er hinter die Regalwand, die quer im Raum stand.
„Das darf doch nicht wahr sein!“, brummte er. Die Tür zum Seiteneingang des Ladens in der Wendlerstraße war einen Spalt breit geöffnet. „Ich bin mir ganz sicher, abgeschlossen zu haben“, sagte er sich mit fester innerer Stimme. Penibel untersuchte er Schloss und Tür. Die paar Kratzer in Kniehöhe kannte er schon. „Komisch, alles ist unbeschädigt.“ Er beeilte sich, in der Kasse nachzusehen und bemerkte dabei, dass seine Hände leicht zitterten. Wechselgeld und einige Scheine lagen wie unberührt an Ort und Stelle. Offensichtlich fehlte nichts – und trotzdem musste sich jemand Zutritt in seinen Laden verschafft haben. „Ausgerechnet am Weltmeistersonntag!“
Bevor er weitere Überlegungen anstellen konnte, kam der erste Stammkunde, Siegfried Ernst, um Morlocks Schwiegervater zu gratulieren: „Mensch, Hans, dei Max hat des Wunder von Bern gezaubert!“ Bei diesen Worten platzte Richard Bubner herein. „So ein Wahnsinn! Max, lou dei Stiefelspitz vergolden!“ Siegfried war als Spaßvogel bekannt. Er ulkte: „Wou hat er den Spagatschritt glernt, doch wohl ned im Ballett?“ Ausgelassenes Gelächter erfüllte den Raum. Sie wurden unterbrochen, als ein weiterer Kunde sich vordrängte: „Zwei Schachteln Eckstein!“ forderte er lautstark. „Wer holt die Zigaretten?“ „Immer der wo frächt!“
Durch das große Ladenfenster erblickte Hans Weiß seinen alten Kumpel Georg Meier, der mit langen Schritten näher eilte. Er drängte sich durch die Gratulantenschar, in der gerade der Spruch zirkulierte „Kein Rahn ohne Morlock!“, hakte Hans unter und zog ihn ins Hinterzimmer. Bevor er die Geschichte von gestern erzählen konnte, musste er sich die Sache mit der offenen Seitentür anhören. „Das Hinterzimmer ist durchstöbert worden. Die Kasse ist aber unberührt!“
„Auch des no!“ Obwohl Georg einigermaßen aufgeregt war, bemühte er sich, die Geschichte von gestern so zu erzählen, dass Elisabeth keinen Grund gehabt hätte, seinen Dialekt zu kritisieren. „Übung macht den Meister“ dachte er sich und berichtete fast dialektfrei über den „Schuss, den meine Frau gehört hat“, die Blutspur vor dem Laden, „die wir beide gesehen haben“ und das liegen gebliebene Damenfahrrad. Den Cadillac verschwieg er.
„Wirklich? Eine Blutspur? Das hört sich ja an wie der Beginn eines Krimis.“ „Hör zu! Ich erzähle keinen Quatsch! Schließlich haben wir die Polizei geholt. In einem Krimi hätten die das Blut untersucht. Aber die beiden Doldi, die gestern hier waren, lehnten eine Untersuchung ab.“ Den „Doldi“ hätte er sich in Gegenwart seiner Frau natürlich nicht gegönnt. „Dann war’s wahrscheinlich doch kein Blut!“ „Das steht zweifelsfrei fest, aber die sagten, es ist Katzenblut.“
„Waren sie von der Kriminalpolizei?“„Sie sprachen von Stadtpolizei und davon, nicht zuständig zu sein.“ „Siehst du – du hättest gleich die Kripo anrufen sollen. Probier es doch bei denen und vergiss auch nicht, die offene Seitentür zu erwähnen!“ „Solltest nicht besser du das übernehmen, es ist doch euere Ladentür.“ Hans überlegte, dann sagte er: „Da offensichtlich nichts fehlt, will ich mich erst mit Max besprechen.“ „Gut, ich wende mich also wegen der Blutspur an die Kripo.“
Elisabeth lauschte auf das Knarren der Treppe. Sie kannte den schweren Schritt ihres Mannes. Noch bevor er aufsperren konnte, öffnete sie die Tür. „Und? Was sagt Hans zu unserer Entdeckung?“, fragte sie gespannt. Sie konnte kaum abwarten, bis Georg wieder zu Atem kam. „Ich muss mich erst setzen. Hans meint, für die Untersuchung der Blutspur ist die Kriminalpolizei zuständig. Und die Kripo wird sich ja wohl auch mehr für den Schuss interessieren, den du gehört hast.“ „Georg, jetzt merke ich, dass du mir doch glaubst. Das freut mich sehr!“
„Wo finde ich denn die Telefonnummer der Kriminalpolizei?“ „Im Telefonbuch unter K.“ „Fehlanzeige!“ „Haben die beiden Polizisten gestern nicht von der Bayerischen Polizei gesprochen?“ „Unter B finde ich nur das Bayerische Landeskriminalamt. Aber es ist auch eine Nürnberger Nummer angegeben.“
Georg wählte bewusst langsam, um ein wenig Zeit für die Überlegung zu gewinnen, was er sagen sollte: „Erwähne ich nur die Blutspur oder auch den Schuss und wer hat ihn gehört – nur Elisabeth und die Reibers oder auch ich?“
Das „Belegt“-Zeichen verlängerte seine Bedenkzeit. Als sich beim dritten Versuch eine unwirsch klingende Männerstimme meldete, hatte er die Lösung, die er auch sofort loswerden wollte: „Meine Frau hat mir glaubhaft versichert, gestern einen Schuss gehört zu haben …“ „Einen Moment, ich verbinde mit der Abteilung Ermittlungen.“
Der Ansprechpartner aus dieser Abteilung war freundlich, geduldig und außergewöhnlich hilfsbereit. Nachdem Georg seinen Satz mit dem Schuss wiederholt hatte, wurde er zunächst belehrt: „Eine Strafanzeige gegen Unbekannt nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.