Das Orangenbäumchen
»Eine Ewigkeit, ein Schmetterlingsflügelschlag.«
(Christoph Marzi, Lumen)
»Alles«, sagte die Katze und zuckte unmerklich mit den Ohren, als sich irgendwo unter ihr eine Taube regte, »ist immer im Wandel. Nichts bleibt, wie es ist, und nichts ist für die Ewigkeit.«
»Ewigkeit«, sagte der Wasserspeier. »Das ist ein schönes Wort.«
»Es ist überbewertet«, sagte die Katze und verfolgte die Menschen, die tief unter ihr durch die Straßen strömten.
(Oliver Plaschka, Drachenschwingen)
Prolog
Der Topf mit der Erde steht vor mir. Ich halte den Orangenkern fest in meiner Hand. Noch ist es nicht Zeit, ihn fallen zu lassen. Ich schaue in den Himmel, der sich über mir im Muster meines kaleidoskopischen Lebens spannt. Gleich – gleich wird es soweit sein. Das Muster wird sich verschieben, das Kaleidoskop sich drehen.
Ich hoffe es funktioniert, Julie, auch wenn ich weiß, was ich tun muss, wenn es nicht klappt. Aber ich hoffe es. Es ist meine letzte Chance, dich in die Welt zurück zu holen. Die anderen habe ich bereits vertan.
Drei Chancen.
Drei Orangen.
Drei Träume.
Drei weitere Drehungen im Kaleidoskop.
Die Menschen, die um mich herumhasten, um den Eiffelturm zu sehen, jenes Stahlgestell, das das Antlitz der Stadt so verändert hat, beachten mich kaum. Wer beachtet schon einen Magier im Schatten des Eiffelturms?
Ich mag diesen Ort nicht wirklich. Und doch – es ist unser Ort. Hier trafen wir uns. Es ist dein Ort, Julie, hier hast du eine Weile gesessen, Tag für Tag, und den Leuten gelauscht.
Sie wissen, dass du fort bist. Sie müssen es einfach spüren. Schließlich ist jetzt niemand mehr da, der sie rettet. Mich hast du auch gerettet.
Aber wahrscheinlich tun sie es doch nicht. Sie sind blind. Waren es schon immer, auch, als du noch da warst, du, und das Orangenbäumchen, das in deiner kleinen Wohnung in Montmartre stand.
Ich spüre, wie sich über mir das Muster meines Himmels verändert. Du hast mir beigebracht, dass das Leben nichts anderes ist, als das Muster eines Kaleidoskops – ein Bild, dass wir betrachten und nach einer Weile scheinbar verstehen – bis es sich wieder ändert und wir wieder von vorne beginnen. Manchmal dauert es Jahre, bis ein Steinchen sich dreht. Manchmal vergehen nur Sekunden.
Bei dir und mir waren es drei Tage.
In meinen Ohren beginnt das vertraute Geräusch der Veränderung. Seit du fort bist, kann ich es erkennen. Die Steine, einer nach dem anderen, mischen sich, zuerst klackernd, dann alle zusammen, rauschend, neu.
Ich lasse den Orangenkern fallen. Meine Hand schwebt über dem Topf.
Es muss gelingen. Es muss gut werden, du musst zurückkehren. Es muss …
I
Julie. Unter diesem Namen kannte dich die Welt, als Stimme aus dem Radio.
Auch ich kannte dich von dort, aus deiner Sendung, die jeden Abend ausgestrahlt wurde. Gedichte und Geschichten hast du vorgelesen, manchmal ein Lied gesungen, und immer waren deine Worte mit einem Lächeln versehen, das man durch die Lautsprecher spüren konnte. Vor allem aber – und ich glaube, das war es, was die Sendung ausgemacht hat, hast du zugehört. Menschen haben dich angerufen, dir ihre Sorgen und Nöte geschildert, dir ihren Kummer und ihr Leid geklagt. Und obwohl du nie viel gesagt hast, stets legten sie am Ende des Gespräches mit einem Lächeln in der Stimme auf. Und auch die, die wie ich vor dem Radio saßen und einfach nur zuhörten, lächelten dann. Weil das Leid, das einen selber quälte, ein Stück kleiner geworden war, durch die Geschichte des Fremden, durch deine Stimme, dein Lächeln.
Nie hat man etwas über dich erfahren. Du warst immer nur Julie. Julie aus dem Radio.
Ich habe dich nie angerufen, obwohl ich oft die Hand schon am Hörer hatte. Doch was hätte ich sagen sollen? Ich sei ein Magier, der seine Magie verloren hat? Ein Trickkünstler, dem die Tricks misslingen? Ein Illusionist, der keine Bilder mehr hervorbringen kann, weil auch diese Dinge nicht ohne einen Funken Magie funktionieren? Wie unsinnig waren diese Dinge, wenn man den fremden Stimmen lauschte, die dich sonst anriefen. Und doch – du hast mir jeden Abend geholfen. Mit deinem Lächeln.
Nie hat jemand gefragt, wie es dir geht. Nie. Auch ich nicht. Nicht einmal daran gedacht habe ich.
Du warst es, die zuhörte. Mir meinen Kummer nahm, meine Traurigkeit. Wie im Radio. Wie zu den Füßen des Eiffelturms, wo du jeden Tag eine Weile verbracht hast, um Menschen kennen zu lernen, ihnen zu lauschen. Und doch – ein wenig von dir hast du mir gezeigt. Vielleicht sogar eine Menge.
Hat je einer außer mir dich kennengelernt, Julie? Dich, den Schmetterling und die Orangen? Wusste überhaupt jemand, wie sehr diese Dinge mit dir verbunden waren? Ich wusste es nicht – und ich begriff es erst, als es zu spät war.
Der Moment, in dem ich dich zum ersten Mal sah, ist mir noch so nah, dass ich das Bild genau beschreiben kann. Ich saß auf einer der Bänke, die es am Eiffelturm gibt. Das Konstrukt aus Stahl ragte über mir in den Himmel und sperrte für meine Augen die Wolken am Himmel für einen kurzen Moment ein. Mir ging es nicht gut. Immer noch suchte ich nach dem Trick, der funktionierte, der Illusion, die nicht sofort als Lüge verflog.
Du hast dich einfach neben mich gesetzt, als hättest du gespürt, wie es um mich stand. Einen weißen Rock mit Blumen, die sich von der Hüfte bis zur Höhe deiner Knöchel rankten, hast du getragen, und eine helle Strickjacke. Um deinen Hals baumelte der silberne Schmetterling mit den hellblauen Flügelflecken, auf jeder Seite einen. »Es sind Regentropfen«, hast du irgendwann mal zu mir gesagt, als ich den Anhänger in der Hand hatte, »Regentropfen voller Licht.« Du mochtest den Regen und das Licht, den Regenbogen, der beides verband.
Der Wind hat mit deinen roten Haaren gespielt und mehrmals musstest du die Strähnen aus deinem sommersprossigen Gesicht streichen, um noch etwas zu sehen – aus Augen, die grün oder blau sein konnten, aber nie beides zugleich.
»Ich bin Julie«, hast du gesagt. Nur das.
Und ich, der deine Stimme, das Lächeln in ihr, sofort erkannte, sagte: »Aus dem Radio.«
Daraufhin sah ich dein Lächeln zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht. Es war noch viel wunderbarer als in meiner Vorstellung, es kam mir wie ein Sonnenstrahl vor, der durch die Wolken bricht und alles vergessen macht.
»Erzähl mir von dir«, das waren deine nächsten Worte. Und ich tat es. Nach nur einer Stunde wusstest du alles von mir oder das, was ich in diesem Moment selbst noch wusste – meinen Namen, meine Geschichte und meinen Kummer über missratende Tricks und zerfallende Illusionen. Als ich dir alles erzählt hatte, genau in dem Moment, als ich dir sagte, dass ich nur dort gesessen hatte, weil ich nicht mehr wusste wohin mit mir – da wusste ich auf einmal, wie es weitergehen würde. Wie ich meine Illusionen retten und mir meine Tricks gelingen würden. Und du? Ach Julie, natürlich hast du nur gelächelt und nachdenklich mit dem silbernen Schmetterling gespielt. Du wusstest schon so viel mehr von mir, nicht wahr?
Mir kam ein Gedanke, beschwingt wie ein Lied – ein Traum, der wie alle Träume wahre Magie enthielt. Magie, die heute längst vergessen ist und für Trick und Illusion gehalten wird.
Ich hob meine Hand, legte sie vorsichtig um die deine, die den Schmetterling hielt. Du hast mich nur angeschaut und stillgehalten, in der Erwartung dessen, was nun kommen würde.
Ich wusste es, weil ich den Traum hatte, die Melodie, für den nur noch dein Lachen fehlte, dein Lachen, das ich auf deine Lippen zaubern wollte. Ich wollte dein Glück sein,