Schweizer Wasser. Bernhard Schmutz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernhard Schmutz
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839269442
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Geist geht sie den Menüplan durch. Auch nach mehrmaligem Überdenken findet sie keinen Anhaltspunkt, was der Auslöser hätte sein können. Auf kritische Lebensmittel, wie zum Beispiel Eier in Nachspeisen, verzichtet sie konsequent. Experimente sind tabu. Fleisch wird nur durchgebraten serviert. Außer Reis und Pasta kauft sie praktisch alles täglich frisch und regional ein. Bei der Lagerung hält sie sich strikt an die Vorschriften der Lebensmittelverordnung, wie sie für die Gastronomie gelten. Auf die Hygiene achtet sie besser als mancher Chefkoch, ist sie überzeugt. Vor dem Lebensmittelinspektor fürchtet sie sich nicht. Verdorbene Lebensmittel! Trotzdem verfolgt sie dieser Gedanke, während sie das Abendessen vorbereitet. Zum Glück ein einfaches Menü. Gschwellti, Käse und Salat.

      Zwei Stunden nachdem ihr Kopfkarussell sie endlich in Ruhe gelassen hat, reißt sie ein bekannter Klingelton aus dem Schlaf. Auf dem Bauch liegend, tastet Lisa mit der rechten Hand nach der Lärmquelle. »Mist!« Scheppernd fällt das smarte Telefon auf den Fußboden. Als ihre Finger es endlich spüren, wischt die unkoordinierte Handbewegung es unter das Bett. »Merde!«

      »Tut mir leid, wenn ich Sie so früh störe, Frau Pelletier. Heute Nacht sind zwei Jungs, ein Mädchen und meine Leiterkollegin erkrankt. Sie leiden unter Erbrechen, Schüttelfrost und Durchfall. Alle vier sind im Notfall. Ich werde das Lager abbrechen und mit dem Rest der Klasse heute um acht Uhr nach Hause fahren. Da scheint ein sehr ansteckender Virus im Umlauf zu sein. Bitte kommen Sie so rasch wie möglich vorbei«, lautet die niederschmetternde Mitteilung auf ihrer Sprachmailbox. Und dabei hatte sie sich eingeredet, dass nach dem äußerst schwierigen, von Vorwürfen bestimmten Telefonat mit Sophies Eltern am Vorabend der unangenehme Höhepunkt dieser Geschichte überstanden sei. Weit gefehlt!

      Juni (7)

      Wie Papierschiffchen tummeln sich die weißen Dreiecke auf der Wasseroberfläche am Fuß der sanften Hügellandschaft. Die leichte Brise nutzen viele für einen Segelturn und als willkommenen Freiluftventilator. Weniger Privilegierte trösten sich mit dem Sprung ins kühlende Nass. Seit Tagen herrschen Temperaturen wie im Hochsommer. Über 30 Grad am Tag sind mehr Regel als Ausnahme. Nachts fallen die Temperaturen nur knapp unter 20 Grad. Anfang Juni und bereits Hochbetrieb am und auf dem See wie während der Sommerferien. Das Gedränge am Ufer wirkt wie ein aufgescheuchter Ameisenhaufen. Zumindest aus der Entfernung der beiden Beobachter, die sich in der Parkanlage für einen mächtigen Kastanienbaum als schattenspendenden Freund entschieden haben. Normalerweise sind keine Sitzungspausen eingeplant. Heute musste er eine Ausnahme machen, weil einige der Teilnehmer schlapp und unkonzentriert wirkten. Trotz der dicken Steinmauern, die wie eine Klimaanlage den Sitzungsraum kühlen.

      »Organisation und Ordnung. Da könnten wir Menschen noch viel von den Ameisen lernen. Wusstest du, dass die Aufgabe, welche eine Ameise zu erledigen hat, davon abhängt, in welche Kaste sie geboren wird?«, erklärt der Kleinere der beiden auf der Parkbank, während er fasziniert das Krabbeln am Boden beobachtet.

      »Hmm …«

      »Viele von ihnen könnten ohne eine geordnete Struktur nicht effizient zusammenleben.«

      »…«

      »In einem Ameisenstaat gibt es Königinnen, Arbeiterinnen und Soldatinnen. Die Arbeiterinnen sichern die Nahrungsversorgung ihres Volkes. Unter anderem melken sie Blattläuse.«

      »Hör zu, Ivo. Du weißt, dass mich dein Allgemeinwissen immer wieder beeindruckt. Aber es gibt da etwas, was ich nicht mit deinem Ameisenlatein aus der Welt schaffen kann.«

      »Nur weil du keine Bücher liest und am TV nur Sport und seichte Unterhaltung konsumierst, musst du nicht frech werden. Fakt ist, dass wir Menschen noch viel mehr von der Natur kopieren könnten, wenn wir nur wollten. Insbesondere Ordnung, Struktur und Hierarchie in der Tierwelt.«

      »Jaja. Ist ja gut. So war es nicht gemeint. Ich habe aber ein Thema, bei dem ich in der Tierwelt bestimmt keine Antwort finden werde. Ich bin mir nicht sicher, wie ernst ich es nehmen respektive ob ich es als heißes Eisen im Plenum ansprechen soll. Deshalb möchte ich zuerst von dir erfahren, wie du darüber denkst. Deine Meinung ist mir wichtig.«

      Mittlerweile weiß Luke ziemlich genau, mit welchen Streicheleinheiten er Ivos Ego bearbeiten muss. Dieses Gespür für sein Gegenüber kann man weder an einer Akademie noch mit gescheiten Büchern lernen. Er hat es im Blut oder in den Genen, ist Luke von sich überzeugt.

      »Also, worum geht’s?«

      Luke erzählt in knappen Worten die Vorfälle in der Schulklasse auf Heinz Grobs Hof. Die Ursache für die Hospitalisation von fünf Personen sei nach wie vor nicht geklärt. Mit Ausnahme der Schülerin, die zuerst erkrankte, seien zwar mittlerweile wieder alle wohlauf oder konnten das Spital zumindest verlassen. Trotzdem bestehe die Möglichkeit, dass die Geschichte noch nicht gegessen sei. Denn zwei Tage nach dem Abbruch des Lagers sei er durch Zufall auf Einträge in sozialen Medien gestoßen. Via die Tochter einer Freundin, welche mit Schülerinnen der betroffenen Klasse befreundet sei. Gestern nun habe ihn ein Journalist, der für verschiedene Zeitungen schreibt, um ein Interview gebeten. Er habe von diversen Quellen nicht gerade schmeichelhafte Hinweise zum Angebot auf dem Hof von Heinz Grob erhalten. Außerdem hätten Eltern sich beschwert, die Schülerinnen und Schüler würden in erster Linie als billige Arbeitskräfte missbraucht. Zum Beispiel auf der Alp, wo das unlängst vorgestellte Zukunftsprojekt geplant sei. Als seriöser Berufsmann wolle er ihm als Tourismusverantwortlichen die Möglichkeit zur Stellungnahme geben. Eine schlechte Presse sei ja kaum im Interesse von Grindelwald Tourismus und noch weniger wünschenswert im Hinblick auf die Abstimmung.

      »Und was genau ist jetzt deine Frage, Luke?« Menschen, die sich nicht kurzfassen können, strapazieren seine Ungeduld. Die Schärfe in seiner Stimme verrät, dass die Wirkung von Lukes Kompliment nicht länger war als die Lebensdauer einer Seifenblase.

      »Na ja. Wie würdest du an meiner Stelle reagieren? Oder sollen wir das nach der Pause mit den anderen diskutieren? Zwei der Kollegen haben ja Erfahrung als Mediensprecher. Und zwar nicht nur in unumstrittenen Branchen. Vielleicht hätten die mir ein paar Tipps. Klar ist für mich nur, dass ich dem Presseheini bis morgen einen Rückruf versprochen habe.«

      »Weshalb hast du nicht rechtzeitig vor der Sitzung beantragt, dein Thema auf die Agenda zu nehmen, so wie es vereinbart ist?«, will Ivo mit stechendem Seitenblick und vorwurfsvollem Ton wissen.

      »Wie gesagt. Ich wollte dich zuerst unter vier Augen informieren und dich fragen, wie du die Sache beurteilst. Vielleicht mache ich mir ja unnötig Sorgen«, lautet die Antwort, während er dem introvertierten Choleriker neben ihm die linke Hand freundschaftlich auf die Schulter legen will. Im letzten Moment erinnert er sich, wie Ivo Berührungen hasst, die über das Händeschütteln hinausgehen. Niemals würde er, unabhängig vom Geschlecht, jemanden mit Wangenküsschen begrüßen oder eine Umarmung zulassen. Was muss jemand erlebt haben, der nicht den geringsten Körperkontakt akzeptieren kann oder will, nur sehr selten lacht, geschweige denn Gefühle zeigt? Und wenn, dann nur destruktive. Befriedigen sich solche Menschen mit einem perversen Hobby, kaufen Liebe, damit sie nichts schuldig bleiben müssen, oder tummeln sich im Darknet?

      Das ist nicht dein Problem, mahnt sich Luke. So anstrengend der Umgang mit dem Sitzungsleiter oft ist, so bewundernswert findet er dessen zielorientierten, nüchternen Pragmatismus. Und genau den braucht er in dieser Situation, um den Spagat zwischen ernst nehmen und nicht in Panik geraten zu schaffen.

      Ohne seine Meinung zu verraten, gewähre er ihm in der zweiten Sitzungshälfte 15 Minuten, seine Angelegenheit zu diskutieren. Ivo ist bereit, die Agenda spontan anzupassen. Ein Novum und eine absolute Ausnahme. »Denn wo kämen wir hin, wenn jeder so kurzfristig einfach Themen aufwerfen würde?« Anträge für die Agenda erwarte er telefonisch, per Post oder an seine Spezial-Mail-Adresse bis spätestens drei Tage vor jeder Zusammenkunft. So laute die Regel, an die sich auch Luke in Zukunft wieder halten müsse. Denn Regeln zu missachten sei einer der größten Feinde für effizientes, effektives Arbeiten. Das gelte nicht nur während der Sitzungen. Luke bedankte sich brav und ignorierte, mit Ausnahme des ersten Satzes, die Antwort.

      Den herzlichen, zuvorkommenden Gastgeber spielend, holt Luke den Journalisten wenige Tage später vom Bahnhof ab und fährt mit ihm zum Bergrestaurant Bussalp hoch. Wer