Die Ungerächten. Volker Dützer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Volker Dützer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839268742
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Notwehr gehandelt. Hätte Claudius nicht zugeschlagen, wäre sie jetzt nicht mehr am Leben. Und der verfluchte Lubeck hatte tausendmal den Tod verdient.

      »Komm mit mir, Hannah«, bat Scott. »Ich habe eine große Familie. Alle werden dich lieben und verwöhnen.«

      »Ich … ich weiß nicht … Ich …«

      Er legte seine Arme um ihre Hüften und zog sie an sich.

      »Hannah Bloch, willst du meine Frau werden?«

      Erschrocken und verwirrt starrte sie ihn an. Sie war gern mit Scott zusammen. Sie dachten und fühlten gleich, und manchmal war sie überzeugt davon, dass sie sich perfekt ergänzten. Dennoch hatte sie nie darüber nachgedacht, ihn zu heiraten. Vielleicht würde sie irgendwann dazu bereit sein, aber nicht jetzt. Das alles kam zu schnell.

      »Ich liebe dich, Scott. Sehr sogar. Aber ich kann nicht. Noch nicht, es ist zu früh.«

      Sie senkte den Blick, weil sie die Enttäuschung in seinen Augen nicht ertragen konnte. Seine Gefühle für sie waren aufrichtig, sie würde keinen besseren Mann finden, dessen war sie sich bewusst. Trotzdem stand ein dunkler Schatten zwischen ihnen. Er hatte nicht erlebt, was sie hatte durchmachen müssen. Auch wenn er Verständnis für ihr Verlangen nach Gerechtigkeit aufbrachte, konnte er kaum ermessen, wie tief die Wunden waren, die nicht heilen wollten. Die einzige Medizin, die half, waren die Verfolgung der Täter und die Befriedigung, sie vor Gericht zu bringen.

      »Warum bist du so verbissen?«, fragte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

      »Hast du vergessen, was sie mir angetan haben? Sie haben meine Mutter ermordet, mir gesagt, dass ich es nicht wert sei zu leben, und mich in eine Anstalt gesteckt, in der ich jeden Tag mit dem Tod rechnen musste. Sie haben mir meine Freunde genommen und das Liebste, was ich auf der Welt hatte.«

      Er löste sich von ihr. »Es ist wegen dieses Jungen, nicht wahr? Wie hieß er gleich? Hans, richtig. Nun, ich kann verstehen, wenn du um ihn trauerst. Aber das Leben geht weiter, Hannah.«

      »Ich muss akzeptieren, dass Hans tot ist. Er wird immer einen Platz in meinem Herzen haben, trotzdem steht er nicht zwischen uns. Hans ist Vergangenheit.«

      Scott runzelte die Stirn. »Dann … Ich verstehe nicht …«

      »Ich habe hier eine Aufgabe zu erfüllen. Solange sein Mörder frei ist, kann ich nicht so tun, als wäre das alles nicht passiert.«

      »Du kennst den Bericht der Briten. Rolf Heyrich ist kurz vor Kriegsende auf der Flucht erschossen worden. Er ist tot, Hannah. Du jagst ein Gespenst.«

      »Es gibt Zeugen, die ihn vor drei Monaten in Köln gesehen haben.«

      »Rumors, Gerüchte.«

      »Die Aussagen sind glaubhaft. Ich muss Gewissheit haben oder ich werde keinen Frieden finden. Nicht hier und nicht in Boston.«

      »Du willst deine Zeit damit verschwenden, einen Toten zu suchen?«

      »Versuch doch, mich zu verstehen.«

      »Dein Verlangen nach Rache wird dich auffressen.«

      »Ich will Gerechtigkeit.«

      »Die bekommt man nur selten. Glaub mir, es lohnt sich nicht, sein Leben damit zu verbringen, nach ihr zu suchen.«

      »Dann sind Tausende GIs umsonst an den Stränden der Normandie gestorben?«, fragte sie zornig.

      »Nein, sicher nicht.«

      »Was wird aus meiner Arbeit hier?«

      »Die Abteilung wird geschlossen, das sagte ich doch.«

      »Wann?«

      »Am 1. Juni ist Schluss. Damit endet auch deine Arbeit als Zivilangestellte der US-Army. Es tut mir leid, Darling.«

      »So bald?«

      Er zuckte mit den Schultern. »Es liegt nicht in meiner Macht, es zu verhindern. Komm mit mir … oder vergeude deine Jugend für die Suche nach einem Phantom. Es wird dir deinen Hans nicht wiederbringen.«

      Hannah spürte, dass ihre Weigerung, mit ihm zu gehen, ihn tief verletzt haben musste. Seine Stimme klang rau und fremd. Auch sie empfand Schmerz, aber noch mehr Zorn darüber, dass Scott einfach nicht verstehen wollte. Sie zog ihre Fliegerjacke an und ging zur Tür.

      »Wovon willst du leben?«, fragte Scott. »Du brauchst einen Job. In Boston kann ich dir …«

      »Was? Soll ich das Hausmütterchen spielen?«

      Er schwieg und zündete sich noch eine Chesterfield an. Nach einer Weile sagte er: »Die meisten Menschen in Deutschland sind damit beschäftigt, ihr Überleben zu organisieren. Niemand ist so verwöhnt, daran zu denken, seine Träume zu verwirklichen.«

      Hannah spürte, dass ihr die Zornesröte ins Gesicht stieg.

      »Bin ich das für dich? Eine verzogene Göre?«

      »Das habe ich nicht gesagt, ich meinte …«

      »Ich werde als Pilotin arbeiten«, fiel sie ihm ins Wort. »Schließlich habe ich eine Fluglizenz, schon vergessen?«

      Er lachte spöttisch. »Die Deutschen dürfen keine Flugzeuge besitzen oder sie fliegen. Nur ausländische Gesellschaften haben die Erlaubnis, Frankfurt, Köln und Berlin anzusteuern.«

      »Du hast gesagt, das wird sich bald ändern«, gab sie zurück.

      »Nun, vielleicht war ich ein bisschen voreilig. Hannah, ich habe dir einen Herzenswunsch erfüllt. Aber als Pilot zu arbeiten, ist etwas ganz anderes. Niemand stellt für diesen Job eine Frau ein. In den Staaten sieht die Sache besser aus. Dort könntest du Arbeit finden.«

      Das war es also. Er hatte sie mit der Fluglizenz locken wollen, mit ihm zu gehen.

      »Lass uns heute Abend etwas trinken gehen. Dann reden wir noch mal über alles«, sagte er.

      »Es gibt nichts zu reden. Ich bin nicht auf dich angewiesen, um ein eigenständiges Leben zu führen. Und Heyrich werde ich auch finden.«

      Sie knallte die Tür zu und stürmte den Korridor entlang. Die Welt verschwamm hinter einem Vorhang aus Tränen. Hatte Scott recht und sie verrannte sich in die Suche nach Hans’ Mörder? Nein, sie war es ihm schuldig, dass sie Heyrich fand – und wenn sie sich lediglich Gewissheit verschaffte, dass er tot war. Wenn sie Deutschland jetzt verließ, würde sie alles verraten, woran sie glaubte. Sie würde es ohne Scott schaffen, irgendwie.

      4

      2. April 1947

      Pawel Kownas Hände steckten in löchrigen Wollhandschuhen, die kaum vor der beißenden Kälte schützten. Ein eisiger Wind fegte durch die Straßen von Wiesbaden. Pawel suchte in den Manteltaschen nach dem Zettel, den er am Morgen von einer der großen Holztafeln abgerissen hatte. Überall in der Stadt hatte man sie aufgestellt. Sie dienten als Nachrichtenzentralen, Treffpunkte und zum Informationsaustausch. Frauen suchten nach ihren verschollenen Ehemännern, Ausgebombte nach Unterkünften. Man tauschte Dinge, für die man keine Verwendung hatte, gegen solche, die man dringend brauchte – Brot, Kaffee oder warme Stiefel. Zigaretten und Alkohol waren die heiß begehrte neue Währung, in der gehandelt wurde. Pawel hatte drei junge Kerle beobachtet, die sich um ein Stellenangebot balgten, und ihnen die Adresse vor der Nase weggeschnappt. In diesen Tagen war sich jeder selbst am nächsten.

      Seit seiner Flucht hatte er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser gehalten und während der Sommermonate für einen Hungerlohn als Erntehelfer geschuftet. Im ungewöhnlich kalten, nicht enden wollenden Winter hatte er von seinen kargen Ersparnissen gelebt, auf dem schwarzen Markt mit allem gehandelt, was einen Gewinn versprach, und sogar gestohlen, um nicht zu verhungern.

      Sein Plan, nach Warschau zurückzukehren, hatte er aufgegeben, weil er keine gültigen Ausweispapiere besaß. Die Behörden verweigerten ihm einen neuen Pass, weil er keine Zeugen benennen konnte, die seine Identität bestätigten. Zwar sprach er fließend Deutsch, doch sein Akzent verriet sofort seine Herkunft. Die Suche