Alle zehn Jahre ein Buch über Berlin. Nach »In Berlin« (2001) und »Welche Farbe hat Berlin« (2011) spaziert David Wagner wieder durch die Stadt: Er flaniert durch Flughäfen und Malls, die Kastanienallee, die Kurfürstenstraße und die Kantstraße hinauf und hinunter, er besichtigt Autobombensperren am Bikinihaus, verliebt sich in brutalistische Bauten und tanzt auf Socken durch Berliner Zimmer.
Er unternimmt Wallfahrten durch Gewerbegebiete, hilft nicht bei der Gartenarbeit, singt mit Nonnen der Barfüßigen Karmelitinnen, wandert durch die Pandemie und verläuft sich mit Freundinnen, Freunden, allein oder mit einer Schildkröte. Dabei erinnert er an Barrikaden und lässt Brandwände erzählen, folgt geheimnisvollen blauen Röhren, wartet am Rosenthaler Platz auf Erlösung und blickt in eine dystopische Zukunft, in der die Deutsche Digitale Republik (DDR) das freie Berlin besetzt.
»Verlaufen in Berlin« führt kreuz und quer durch die Stadt: ihre Straßen und ihre verschwundenen Brachen, ihre Parkanlagen und Parkplätze, ihre Hässlichkeit und ihre Schönheit. Er zeigt, wohin wir uns verlaufen.
David Wagner, geboren 1971, lebt in Berlin. Im Jahr 2000 erschien sein Roman »Meine nachtblaue Hose«, es folgten u. a. die Bücher »Spricht das Kind«, »Vier Äpfel« und »Welche Farbe hat Berlin«. Sein Buch »Leben« wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2013 und dem Best Foreign Novel of the Year Award 2014 der Volksrepublik China ausgezeichnet. 2014 war er Friedrich-Dürrenmatt-Professor für Weltliteratur an der Universität Bern. Zuletzt erschienen »Sich verlieben hilft. Über Bücher und Serien«, »Ein Zimmer im Hotel«, »Romania« und »Der vergessliche Riese«. Für letzteren wurde Wagner mit dem Bayerischen Buchpreis 2019 ausgezeichnet.
DAVID WAGNER
VERLAUFEN IN BERLIN
Erste Auflage
Verbrecher Verlag Berlin 2021
© Verbrecher Verlag 2021
Einbandgestaltung: Christian Walter
Umschlagfoto: © Ingo van Aaren
Satz: Christian Walter
ISBN 978-3-95732-495-5
eISBN 978-3-95732-506-8
Der Verlag dankt Alyssa Fenner, Antonia Lesch, Jasper Stephan,
Luisa Stühlmeyer und Maria Udelnow.
Inhalt
Erlösungsspiel am Rosenthaler Platz
Potsdamer Straße, Kurfürstenstraße
Das kleine große Riesenmülltütenmonster
Wallfahrt zu Maria Regina Martyrum
Die letzten Tage von West-Berlin
Allen, die mit mir Spazieren waren
KASTANIENALLEE
Verlasse das Haus erst um kurz nach zehn, bisher war es einfach viel zu heiß. Es ist noch hell und die Straßen sind voll, überall sitzen Menschen und schauen Fußball, Fernseher stehen vor den Lokalen, das Viertelfinale Portugal – Kroatien läuft noch. Als ich in die Schwedter Straße biege, geht das Spiel in die Verlängerung. Ich spaziere an Bildschirmen und Leinwänden vorbei – eine hängt unter dem Dach der fast hundert Jahre alten Tankstelle, an der schon lange kein Benzin mehr verkauft wird – und quer über den Teutoburger Platz. Es ist so schön, sich zu bewegen, heute war bisher nur Wohnungswandern. Erkenne dann, er steht vor einem Fernseher in der Fehrbelliner Straße, Pele, den Maler, der sein Atelier im Milchhof hat. Er möchte, wir gehen die wenigen Meter zusammen, die zweite Halbzeit der Verlängerung im Haliflor sehen.
Sascha ist da, Linda, Denice, Rico, Thilo und Karl, Haliflor-Andi ebenfalls. Alle, nur Friederike fehlt, starren wie gebannt Richtung Leinwand, die über der Bar von der Decke hängt. Pele und ich starren auch, unterhalten uns dabei aber über unsere und andere Familienkonstruktionen: halb Patchwork, halb Großfamilie, hin und wieder alleinerziehend. Quaresma trifft kurz vor Schluss, Portugal gewinnt, und Pele bricht auf, er will zurück ins Atelier, während ich noch kurz bei Romy, Sascha und Rico bleibe,