Berit Holzner
Lebe, wenn du kannst.
Wenn du nicht kannst,
lasse ich dich ziehen
Berit Holzner
Lebe, wenn du
kannst. Wenn du
nicht kannst, lasse
ich dich ziehen
Das Sterben
meiner Mutter
17. Dezember 2008
Heute vor einem Jahr, am 17. Dezember 2007, wurde meine Mutter mit einer Hirnblutung ins Krankenhaus eingeliefert. Von da an hatte sie nur noch zweieinhalb Wochen zu leben.
An diesem Tag war ich – wie seit einigen Tagen schon – abgespannt und mit Kopfschmerzen nach Hause gekommen. Meine Schwiegermutter, die Finn vom Kindergarten abgeholt hatte, kam mir mit blassem Gesicht entgegen: Meine Mutter sei im Krankenhaus, der Grund sei wohl eine Hirnblutung.
Was das bedeutete, kam nur langsam bei mir an: War das nun ein großer Einschnitt oder nicht? Krankenhaus hört sich doch erst einmal noch ganz gut an, es ist also noch nicht zu spät, oder?
Ich ging ins Nebenzimmer und rief meinen Vater an, der mir ausführlich erzählte, wie meine Mutter mit Kopfschmerzen das Bewusstsein verloren hatte und nun in der Kopfklinik hundert Meter von mir entfernt an einem Aneurysma operiert werde. Die Ärzte hatten ihn nach Hause geschickt. Ich lud ihn ein, herzukommen, ebenso meinen Bruder Dirk mit seiner Frau Anja.
Bald waren alle da, auch Uli, mein Mann, war nach Hause gekommen, Finn war mittendrin. Meine Schwiegermutter war rasch gegangen.
Alle waren aufgeregt, angespannt, redeten leise.
Mehrmals telefonierte ich mit der Station: Meine Mutter wurde acht Stunden lang operiert. Ob sie die Operation überleben würde, konnte niemand sagen. Aber ich kannte doch Menschen, die ein Aneurysma überlebt hatten.
Ich lehnte mich an die Terrassentür und flüsterte „Mama, lebe“ zu ihr hinüber, über die beiden Gärten, die Straße, den Vorplatz, in die Kopfklinik. Denn darum ging es, dachte ich – sie müsste nur die Operation überleben, dann wäre alles gut.
Als ich abends um neun Uhr noch einmal auf der Station anrief, lag sie endlich dort.
Auf dem schmalen Flur vor der großen Tür zur Intensivstation waren Klappstühle an den Wänden angebracht, gegenüber eine kleine Garderobe, ein Aquarium neben der Tür. Vater ging vor meinem Bruder, meiner Schwägerin und mir hin und her und redete, bitter. Im letzten Jahr sei es ihr gut gegangen, ihnen beiden zusammen, das habe wohl nicht sein dürfen. Er haderte, jedoch nur eine kurze Zeit.
Wir alle waren schockiert und voller Angst.
Wie von außen beobachtete ich uns, als wir dann in dem kleinen, von der Station abgeteilten Raum bei dem jungen Arzt saßen – wir waren alle schick gekleidet, für ganz andere Situationen. Und so verhielten wir uns auch, sachlich, verständig, einsichtig, obwohl es schockierend war, zu hören, was passiert war: Ein mandarinengroßes Aneurysma war geplatzt. Das ganze Gehirn war voller Blut. Die Chirurgin sei entsetzt gewesen, sie hätte, hätte sie dieses Ausmaß gekannt, nicht mehr operiert. Der Schaden sei unklar, sagte der Arzt – vieles in ihrem Gehirn könne zerstört sein, Genaues könnte man erst morgen früh erfahren. Der Zustand meiner Mutter sei so kritisch, dass sie in den nächsten zwei Wochen jederzeit sterben könne. Und jederzeit könnten Spasmen auftreten und weitere Schäden anrichten.
Meine Mutter könne aber auch überleben, und das vielleicht nur halbseitig gelähmt, dies sei auch möglich. Diese Aussage saugten wir auf.
Sie lag in einer Art Séparée mit nur einer anderen Frau zusammen. Wir betraten den Raum, den man mit einer Schiebetüre verschließen kann. Rechts neben dem Fenster lag sie, mit dem Kopfende an der der Tür gegenüberliegenden Wand. Das Atemgerät pumpte und saugte, viele Schläuche umgaben sie, ihre Augen waren geschlossen, die linke Schädelseite war verbunden.
Als die anderen gingen, blieb ich noch.
Ich wusste schon lange, dass ich meine Mutter sehr liebe. Das wurde mir schon, als ich 25 Jahre alt war, von Neuem klar.
Ich berührte sie und streichelte sie. Einmal umfasste ich von hinten sanft ihren Hals, da flackerten ihre Augenlider sehr stark.
Ich weinte nicht. Ich dachte nur, so geht das Leben also, liebe zarte Mama.
Ich wusste nicht, was ihr Körper oder ihre Seele wünschten oder vermochten.
Sie sah schön aus. Sie war nur Atmen und Sein. Sie lebte.
18. Dezember 2008
Es ist nicht so einfach, mir alles wieder in Erinnerung zu rufen.
Herholen wollte ich die Intensität, die Liebe, die starken Gefühle und besonders die starke Trauer, die ich noch einmal erleben wollte. Dazu wollte ich Tag für Tag in meinen Aufzeichnungen von damals lesen, mich erinnern und das Wichtigste niederschreiben. Das Geschriebene würde eine Mischung sein aus Teilen der Tagebuchaufzeichnungen und Ergänzungen, die ich hinzufüge.
(Dabei schreibe ich nicht nur über meine Mutter, wie ich eigentlich annahm, sondern viel über mich. Das irritiert mich im Nachhinein.)
In einer wärmenden Trauer aufgehen, die mich der Mutter näherbringt, wie ich erhoffte, kann ich jedoch nicht. Denn was ich jetzt am zweiten Tag des Schreibens vor allem spüre, ist ein Gefühl von Übelkeit, mein Kopf fühlt sich zum Bersten gefüllt an, die Nebenhöhlen sind zu – wie damals, als ich mit Kopfschmerzen durch die ersten Tage gegangen bin. Alles funktionierte, mein Gehirn, meine Gefühle, und doch war es so anstrengend, den Kopf klar zu halten. Und das wiederholt sich jetzt.
Ich habe mich in diesen Tagen sehr gepflegt gekleidet – jeden Tag, anders als sonst: einmal ihr zu Ehren, aber auch, um mich unter Kontrolle zu halten.
An diesem Morgen, einen Tag nach ihrer Operation, sollte die Untersuchung ihres Kopfes Prognosen ermöglichen. Ich war noch vor der Untersuchung bei ihr. Sie lag fast unverändert, ihr Gesicht war klar und ruhig, die Augen fest geschlossen. Sie strahlte Ruhe aus, die sich auf mich übertrug. Diesmal sagte ich nicht: Mama, lebe, sondern: Ich liebe dich, Mama, lebe, wenn du kannst. (Wenn du nicht kannst und gehen möchtest/musst, dann lasse ich dich ziehen). Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, wir dürfen sie nicht halten, wenn sie nicht bleiben kann. Ich hatte in meiner Jugend Kübler-Ross gelesen, ich hatte als junge Erwachsene meine Großmutter verstanden, als sie sagte, sie wolle nun bald sterben, und ihr das gesagt – ich wollte jetzt meine Mutter in dem unterstützen, was für sie das Beste sein könnte.
So offen blieb ich nicht.
Zwei Wochen lang versuchte ich sie mit meinen Gedanken und Gefühlen zu erreichen und auch zu beeinflussen. Gleichzeitig wollte ich das gerade nicht: sie beeinflussen. Ich war hin- und hergerissen.
Ich wollte sie fühlen lassen, dass ich sie liebe, ich wollte ihr eine Basis geben, damit sie die Kraft entwickeln könnte, weiterzuleben. Sie sollte spüren, dass wir auch mit ihr leben wollten, wenn sie sehr stark behindert wäre. Sie sollte nicht aus Rücksicht auf uns sterben, sondern nur, wenn es für sie selber gut wäre. Ich fühlte diese Gedanken sehr stark, obwohl der Versuch, sie mit meinen Gedanken und Gefühlen zu erreichen, unglaublich anstrengend war. Meine Gefühle mussten ja, so war mein Anspruch, echt und lebendig sein.
Vor allem am ersten Tag war ich noch recht offen für den Lauf der Dinge. Später aber traute ich mich manchmal kaum, sie zu verlassen. Ich glaubte manchmal, sie brauche immer meine Impulse, ich glaubte, dass auch von meinen Gefühlen ihr Leben abhängen würde. Ich fühlte mich verantwortlich. Dazwischen aber lagen immer wieder die langen Phasen der Ruhe und des Friedens mit ihr.
Während der ersten großen Untersuchung mussten mein Bruder, meine Schwägerin, mein Vater