HELEN BRAASCH
DER GEBURTSTAGSKUCHEN, HEIMWEH, DAS VERFLIXTE KLEID
... und andere Kindheitserinnerungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2017
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INHALT
Die verhexte Drei und Lieschen
DIE VERHEXTE DREI UND LIESCHEN
Es ist eigentümlich, dass es oft scheinbar unwesentliche Dinge sind, die von frühester Kindheit an im Gedächtnis haften. Wenn die Kinderseele intensiv betroffen war, wenn existentielle Dinge an den Grundmauern des eigenen Seins rüttelten, blieben manche Erlebnisse über Jahrzehnte wach. Meine frühesten Erinnerungen betreffen die Aussprache der Kombination d-r in dem Wort ‚drei‘ und den Verlust meines Teddys.
Meine Eltern bemühten sich während meines dritten Lebensjahres lange Zeit vergeblich, mir die korrekte Aussprache des Zahlwortes ‚drei‘ beizubringen. Mit Geduld und nicht ohne Tücke sprachen sie mir das Wort vor. Dabei veränderten sie den Namen meines Spielkameraden André in die gewünschte Richtung und glaubten, mich so überlisten zu können. Ich hatte keine Schwierigkeiten, den Namen André richtig auszusprechen. Und die List klappte: ich sagte auch richtig ‚Andrei‘. Sobald ich aber das An- wegließ und nach dem Geheiß meiner Eltern nun ‚drei‘ sagen sollte, wurde daraus wieder ein ‚krei‘. Und ich gab mir wirklich Mühe. Am liebsten hätte ich bei jedem vergeblichen Versuch geheult. Ich rannte dann wütend in der Küche herum und stieß mich mitunter an die Ecken des Küchentisches, woraufhin mein besorgter Vater die Ecken absägte und rundete.
Es mögen wohl die ersten Anzeichen meines Ehrgeizes gewesen sein, dass ich es nun ganz allein probierte, ja regelrecht trainierte. „Eins, zwei, krei; André, Andrei, krei.“ Es wollte und wollte nicht besser gelingen. Und immer wieder wurde ich getadelt, wenn ich die verhexte Drei falsch aussprach. Der Tadel saß tief. Ich übte wohl wochenlang. Eines Tages, ich sehe mich noch ganz genau mit baumelnden Beinen auf dem Küchenstuhl zwischen Tisch und Gaskocher sitzen, war ich wieder am Üben. Und plötzlich kamen die Worte richtig über meine Lippen: „André, Andrei, drei.“ Es hatte geklappt, hurra! Ich rannte zu meiner Mutter und berichtete ihr jubelnd davon, und diese rief umgehend den Vater. Der schaute mich glücklich an und hob mich hoch. Es war so etwas wie ein Familienereignis! Ich war sehr stolz und wurde ordentlich gelobt. Noch heute spüre ich einen Hauch dieses Gefühls, wenn ich daran denke. Ein bisschen Angst hatte ich, ob das mit der Drei nun auch immer klappen könnte. Die verhexte Drei kam jedoch nicht zurück.
Nicht weniger einschneidend war der Verlust meines Teddys, genannt Lieschen. Ich bin mir nicht sicher, ob Mutter und Großmutter, die diese Episode wiederholt erzählten, nicht meine Erinnerung daran mitprägten. Das scheint umso wahrscheinlicher, weil ich mich nicht mehr genau an das Aussehen des ursprünglichen, verloren gegangenen Teddys erinnern kann. Ich hatte die Angewohnheit, alles Mögliche aus meinem Sportwagen hinauszuwerfen. Nun sagt man ja, die Kinder erproben damit ihr Raumempfinden. Bei mir ging es aber offensichtlich zu weit. Es machte einfach Spaß, die Dinge in hohem Bogen wegzuwerfen, und Mama holte sie dann wieder, wenn auch unter Protest. Nur, dass es mit dem Wiederholen nicht immer klappte. Auf diese Weise hatte ich schon den Verlust meines Nuckels zu beklagen, der zu meinem Leidwesen und trotz meines Geschreis nicht durch einen anderen ersetzt wurde. Was blieb mir anderes übrig, als mich damit abzufinden?
Unter meinen Spielsachen liebte ich am meisten meinen Teddy Lieschen. Der Name Lieschen war für mich nicht nur allgemein der Inbegriff für einen Teddy, sondern Lieschen war auch der Gegenstand meiner ganzen kindlichen Liebe zu einem Spielzeug. Ich hatte nur diesen einen Teddy und nicht zehn oder mehr Plüschtiere, wie das heute manchmal bei Kindern der Fall ist. Lieschen begleitete mich überall hin, was auf zahlreichen Kinderfotos dokumentiert ist. Lieschen schlief auch mit mir und teilte Freude und Leid. Aber eines Tages war Lieschen verschwunden. Auf dem Weg zu unserem Garten, den wir so häufig gingen, hatte ich das kleine Kuscheltier aus dem Sportwagen gespielt, und keiner hatte es bemerkt. Auf mein Drängen hin machte sich meine Mutter mit mir im Kinderwagen auf, den Teddy zu suchen. Wir suchten auf den staubigen Wegen zwischen den Gärten, wir suchten noch weiter zwischen den Häusern bis zur Haltestelle der Straßenbahn. Aber der Weg zurück war umsonst. Lieschen blieb verschwunden.
In den Jammer um den Verlust meines Lieblings mischte sich die Reue. Ich weinte lange und bitterlich. Immer wieder plagte mich die Vorstellung, was mit Lieschen geschehen sein konnte. Ein Auto könnte es überfahren haben, andere Kinder könnten es gefunden und mitgenommen haben. Möglicherweise waren sie nicht lieb zu ihm. Viele Eindrücke aus dem Kindesalter hinterlassen Spuren. Die Trauer um den verlorenen Teddy war ungeheuer nachhaltig für mich und hatte sicher eine Auswirkung auf mein späteres Verhalten bei der Betreuung meiner Puppen und vielleicht sogar meiner Kinder. Ich bekam auch nicht gleich wieder einen Ersatzteddy. Keiner sagte: „Ist nicht so schlimm. Wir kaufen dir einen neuen Teddy.“ Ich musste es aushalten, so bitter