„Das ist doch völlig verrückt, Hunter, und das weißt du auch. Boudreaux ist ein Mistkerl. Wer weiß, welches unschuldige ausgesetzte Tier er als Nächstes in sein Versteck lockt? Wenn das hier irgendein PR-Gag ist, warum erzählen wir dann nicht mal ganz New York von dieser reichen Göre von der Upper West Side, die ihr Leben vertut und Hunde quält, häh? Wie viele Familien gehen kaputt durch das Zeugs, das er verkauft und wie viele Leben enden deshalb viel zu früh? Jeder in dieser Stadt wäre auf meiner Seite.“
Hunter griff nach einer Ausgabe der New York Post und sagte: „Wenn du an dein Handy gehen würdest, dann wüsstest du, dass die Boudreaux’ sich schon an die Presse gewandt haben.“
Auf der Titelseite der Zeitung prangten ein Foto von Beck und die Schlagzeile:
POLIZEIGEWALT: ANGRIFF GEGEN SOHN EINES PROMINENTEN GESCHÄFTSMANNES AUS MANHATTAN
„Das soll wohl ein Witz sein“, sagte sie wütend und schleuderte die Zeitung zurück zu Hunter. „Ich dachte, seine Eltern wären gute Menschen.“
„Und ich dachte, du wärst eine gute Polizistin. Boudreaux zu schlagen, egal, was er getan hat …“
„Ein wehrloses Tier, Hunter.“ Ohne dass sie es wollte, kamen ihr jetzt die Tränen. „Ich dachte, wir sollen schützen und bewahren. Du hättest den kleinen Hund sehen sollen. Er war völlig verfilzt und hatte schreckliche Schmerzen.“ Beck hob die eine Hand und fuhr fort: „Seine … Tränen sind genau hier hin getropft.“
„Hunde weinen nicht so wie Menschen“, widersprach ihr Hunter.
Da ging sie auf ihn los und sagte: „Wenn ich dir doch sage, dass er geweint hat …“
Mit erhobenen Händen trat er ein Stückchen zurück. „Okay, okay, ist ja schon gut, ich hab ja gar nicht gewusst, dass du wegen eines Hundes so emotional werden kannst. Oder wegen überhaupt etwas …“
Beck wandte sich ab. Das waren die Babyhormone – sie mussten es sein. „Vier Wochen ohne Bezahlung also?“
„Ja. Wir haben die Anklagepunkte gegen Boudreaux mit Auflagen fallen lassen. Er muss sich einem Drogenentzug und anschließend einer Therapie unterziehen. Dadurch ist dann zumindest sein Kontakt zu Vinny erst mal für eine Weile unterbunden. Aber um zu verhindern, dass die Familie Anzeige gegen dich erstattet, mussten wir dich suspendieren.“
„Drogenentzug und Therapie? Das ist doch für ihn das reinste Vergnügen. Urlaub in einem Luxushotel, wo er dann in der Therapie die Schuld für alles auf seine Eltern schieben kann. In sechs Wochen entlassen sie ihn dann mit Sternchen und schicken ihn wieder raus auf die Straße.“ Beck fluchte und trat so heftig gegen Hunters Birkenfeige, dass der Topf der Pflanze gegen die Wand prallte. „Wer hat eigentlich in dieser Stadt das Sagen? Reiche Geschäftsleute? Seit Jahren versuchen wir jetzt schon, Vinny festzusetzen, und Boudreaux war unsere große Chance. Wir hatten ihn. Wieso hat der Staatsanwalt ihn nicht vor die Alternative gestellt, entweder gegen Vinny auszusagen oder selbst ein Strafverfahren zu bekommen? Das wäre mal eine Strategie gewesen.“
„Weil Boudreaux den Polizeigewalt-Trumpf im Ärmel hatte“, beantwortete Hunter ihre Frage und füllte Wasser in einen kleinen Pappbecher aus dem Wasserkühler in der Ecke und bot ihn Beck an. „Dieser Zwischenfall kommt in deine Akte, Beck. Das heißt, dass du ein Jahr auf Bewährung bist, wenn du wiederkommst.“
„Das ist so ein Blödsinn“, erklärte sie und trank das Wasser in einem Zug aus.
„Und jedes weitere Dienstvergehen würde zu deiner Entlassung aus dem Polizeidienst führen“, fuhr Hunter fort.
Sie zerknüllte den Pappbecher und pfefferte ihn in den Mülleimer. „Dann bin ich also der Prügelknabe.“
„Sie statuieren ein Exempel an dir. Inoffiziell bin ich wahrscheinlich mit allem einverstanden, was du getan hast, aber du hast dir leider den falschen Zeitpunkt dafür ausgesucht. Der Polizeichef der New Yorker Polizei möchte gern unseren Ruf in der Stadt und eigentlich auf der ganzen Welt verbessern.“
Daraufhin nahm Beck ihre Dienstwaffe aus dem Holster, holte die Dienstmarke aus der Tasche und warf beides auf Hunters Schreibtisch. Darauf zu warten, dass er ihr beides abnahm, wäre eine zu tiefe Demütigung für sie gewesen.
„Geh nach Hause und ruh dich aus, Beck. Du siehst nicht gut aus. Mir tut das alles wirklich sehr leid“, sagte er und sowohl seine Miene als auch sein Tonfall drückten echtes Mitgefühl aus.
Doch Beck ging nicht, sondern ließ sich auf einen der Stühle gegenüber von seinem Schreibtisch fallen, den Kopf auf die Hände gestützt und sagte nur matt: „Ist ja nicht deine Schuld.“
Hunter war fünfzehn Jahre älter als sie, selbstsicher, sah gut aus und war deshalb ein Aushängeschild für das New York Police Department. Er lief Marathons, arbeitete ehrenamtlich in einem örtlichen Boys Club mit, und auf dem Sideboard in seinem Büro standen Bilder von seiner lächelnden schönen Frau Gaynor, an deren Miene zu erkennen war, wie sehr sie ihren Mann schätzte und liebte.
Beck schämte sich jetzt unendlich und hatte heftige Schuldgefühle für das, was geschehen war, und sie hätte ohne Weiteres eine einjährige Suspendierung ohne Gehalt auf sich genommen, wenn sie es dadurch hätte ungeschehen machen können – und die mittlerweile kaum noch zu übersehenden Folgen.
„Was willst du denn mit dem Monat anfangen, in dem du nicht arbeitest?“
Beck verschränkte die Arme vorm Körper und fühlte sich unsicher ohne ihre Polizeiausrüstung, Dienstmarke und Dienstwaffe. Wer war sie überhaupt, wenn sie nicht Polizistin war?
„Ich habe gerade erfahren, dass ich ein Haus geerbt habe – und zwar ausgerechnet in Florida.“
„Ein Haus?“, fragte Hunter. „Von wem denn?“
„Von einer alten Dame, mit der meine Familie früher gut bekannt war.“
„Damals in der Zeit, die du vergessen hast?“
„Ja, so ähnlich.“ Sie stand auf und kämpfte gegen eine Welle von Verzweiflung und Übelkeit an.
Hunter war einer der wenigen im neunten Revier, die über ihren Gedächtnisverlust Bescheid wussten. Sie hatte es nicht mehr länger verbergen können, als er versucht hatte, mit ihr Erinnerungen an ihren Vater auszutauschen.
„Bevor ich auch nur sagen konnte: ,Halt, Polizei!‘, hatte er diesen riesigen betrunkenen Kerl schon auf dem Boden fixiert.“
„Wo denn in Florida? Du weiß ja, dass Vinny Kontakte in den Norden von Florida hat, oder? Du könntest doch da runterfahren und verdächtige Aktivitäten beobachten“, sagte er leise lachend, worauf Becky nur einen knurrenden Laut ausstieß und entgegnete: „Ich bin suspendiert, schon vergessen?“
„Ich finde, du solltest dir das Haus anschauen, diesen düsteren Ort hier mal für ein paar Wochen vergessen und dem Winter entfliehen.“
„Vielleicht. Aber in meiner Vorstellung ist das Haus eine heruntergekommene Bruchbude, in der neunzehn streunende Katzen hausen. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob das Testament überhaupt gültig ist.“
„Rede mit den Kollegen da unten und lass sie ein bisschen recherchieren.“
„Noch mal, ich bin suspendiert.“ Ihr Sarkasmus linderte ihren Schmerz ein wenig.
Was sollte sie denn bloß vier Wochen lang dort mit sich allein anfangen? Wenn sie nichts zu tun hatte, womit sie den Tag herumbringen konnte, würde sie sich den Tatsachen stellen müssen. Sie war im sechsten – im sechsten Monat – schwanger.
Beck schaute unauffällig zu Hunter hinüber und begann: „Also es gibt da etwas, das ich dir noch sagen muss, Hunter. Jedenfalls glaube ich, dass ich es dir sagen sollte.“
In dem Moment klopfte es so heftig, dass die