Ziemlich angewidert wickle ich den hochgewürgten Haarballen in mehrere Lagen Klopapier und versenke ihn in der Biotonne. Der Appetit ist mir vergangen, als ich endlich zu meinem merklich abgekühlten Tee und meinem Müsli zurückkehre. Ich frühstücke.
Jessy kommt ins Wohnzimmer, kratzt an der Terrassentür, und wirft mir einen auffordernden Blick zu. Ich öffne die Tür. Madame schlendert in den Garten. Drei Minuten später will sie wieder rein. Tür auf. Katze rein. Tür zu. Ich widme mich der Zeitung. Zwei Minuten später dasselbe Spiel: Jessy sitzt vor der Terrassentür und guckt auffordernd.
„Nein.“
„Mau.“
„NEIN!“
„MAAAUU!“
Also gut. Tür auf. Katze raus. Tür zu.
Kurz darauf will sie wieder rein.
Mir reicht es. Ich lasse die Jalousie so weit herunter, dass eine Katze gerade eben hindurch schlüpfen kann, und öffne die Terrassentür. Zu dumm, dass man in eine Glastür keine Katzenklappe einbauen kann.
Ich fahre einkaufen. Da wir hier auf dem Land sind, ist das immer ein größerer Akt. Mal schnell eine Tüte Milch oder ein Stück Butter holen geht nicht. Anschließend mache ich noch kurz zwei Geburtstagsbesuche bei älteren verdienten Gemeindemitgliedern.
Wieder zu Hause, erwartet mich eine böse Überraschung. Die Küche schwimmt in einem dreiviertel Liter H-Milch. Ich habe wohl vorhin nach dem Frühstück vergessen, den angebrochenen Tetrapack katzensicher im Kühlschrank zu verstauen. Madame hat ihn von der Anrichte gefegt und sich einen kleinen Drink genehmigt. Nun sitzt sie mitten in der weißen Pfütze, duckt sich schuldbewusst und macht große Augen, während ich mein Donnerwetter loslasse. Mit dem Bauch am Boden und hängendem Schwanz schleicht sie betreten von dannen, und ich habe sofort ein schlechtes Gewissen.
Immer noch leise schimpfend, putze ich die Küche. Dann widme ich mich der Predigt für den morgigen Sonntag. Gedanklich ganz vertieft in das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, will ich eben meinen Laptop aufklappen und loslegen, da höre ich von draußen ein ungemein triumphales, hohes und helles „MIIIIAUU-UUUU!!!!“
Zu Deutsch: „Guck mal, was ich hier Tolles habe!“
Ich springe auf, renne zur Terrassentür und hoffe, dass es mir gelingt, sie zu schließen, bevor …
Es ist leider schon zu spät. Die Mörderin im Tigerfell ist schon im Wohnzimmer. Sie trägt ein zappelndes Etwas im Maul, ganz vorsichtig, um es ja nicht zu beschädigen, und setzt es mir vor die Füße. Es ist eine Wühlmaus, die sofort in heller Panik unter das Sideboard flitzt. Jessy schaut ihr hinterher. Dann sieht sie mich vorwurfsvoll-resigniert an. Wenn sie könnte, würde sie genervt die Augen verdrehen und sagen:
„Du ungeschickter, plumper Zweibeiner! Nicht mal, wenn ich sie dir frei Haus liefere, bist du schnell genug, sie zu fangen!“
Ich weiß, dass ich sie nicht schimpfen darf. Sie meint es ja so gut und ist immer so stolz. Also lobe ich sie überschwänglich, was bleibt mir auch anderes übrig. Jessy schmiegt sich begeistert schnurrend an meine Beine und folgt mir ins Arbeitszimmer. Irgendwann heute Abend muss ich halt sehen, wie ich die Maus einfange und wieder an die Luft setze. Möglichst so, dass die Katze es nicht merkt und sie mir gleich wieder zurückbringt.
Wieder am Schreibtisch, vertiefe ich mich in den Wust an Notizzetteln, der bei mir jedes kreative Arbeiten begleitet. Jessy setzt sich mir zu Füßen und stößt einen zärtlichen gutturalen Laut aus, wie ein hohes Gurren oder Zirpen: „Brrrp!“
Dann nimmt sie einen kurzen Anlauf und springt auf die Rückenlehne meines Schreibtischstuhls. Behaglich schmiegt sie sich an mich, wie eine lebendige Nackenrolle. Und dann, direkt in mein linkes Ohr: „Chrrr … chrrr … chrrr …“
Diese Momente seliger Zweisamkeit sind es, die mich für hochgewürgte Haarballen, Mäuse unterm Sideboard und stinkendes Katzenfutter in der Küche entschädigen.
Und so eine schlafende Katze im Genick hat auch ganz konkrete Vorteile. Für die Dauer des Katzennickerchens bin ich nämlich am Schreibtisch festgenagelt. Dank meiner Mieze schaffe ich es, mich zwei bis drei Stunden auf meine Predigt, meinen Unterrichtsentwurf oder meinen Haushaltsplan zu konzentrieren, ohne der Versuchung zu erliegen, in der Wohnung herumzuwandern oder mal schnell mit einer Freundin zu telefonieren. Nur, dass ich nicht aufs Klo gehen kann, ist manchmal etwas hinderlich.
Heute komme ich gut voran. Es ist Samstag, 16 Uhr 30. Und ich bin, dank kätzischer Unterstützung, fast fertig mit meiner Predigt. Jetzt merke ich, dass sich etwas rührt in meinem Genick. Madame ist aus dem Schlafe erwacht. Gähnt und räkelt sich und springt dann in einem anmutigen Satz auf den Schreibtisch.
„Na, Süße? Ein bisschen muss ich noch arbeiten.“
„Brrrp …“, macht sie zärtlich.
Dann legt sie den Kopf schief, lagert sich elegant neben meinen Laptop und beobachtet interessiert meine tippenden Hände. Ich halte beim Tippen inne und bemerke die verräterisch zuckende Schwanzspitze und das gesträubte Nackenfell. Sie lauert! Und die arme ahnungslose Beute sind diesmal meine Finger.
„Jessy! Untersteh dich!“
Zu spät. Mit ausgefahrenen Krallen wirft sich das Raubtier auf den Laptop und auf meine armen Hände, begeistert von der für sie so eindeutigen Aufforderung zu dem heiteren Gesellschaftsspiel „Zehn kleine Mäuschen hüpfen auf und ab“.
Ich schreie und springe auf. Während ich nach Heftpflastern suche und meine malträtierten Hände verarzte, bricht der Wahnsinn sich Bahn. Meine Katze heißt eigentlich Jessy. In Momenten wie diesem nenne ich sie Lady Gaga. Gaga im Sinne von total bekloppt.
Wie eine wild gewordene Hummel fegt sie miauend durchs Haus, rast treppauf, treppab, rauf auf den Kleiderschrank, runter vom Kleiderschrank, einmal quer durch die Küche, rauf auf den Küchentisch, haarscharf am Rotwein vorbei, runter vom Küchentisch, mit irrem Blick unterm Sofa durch. Es folgen ein halbes Dutzend Luftsprünge. Einfach so, mit allen Vieren gleichzeitig, aus dem Stand über einen Meter hoch. Mit einem Riesensatz wirft sie sich schließlich auf den Flickenteppich in der Diele und schlittert damit drei Meter übers Parkett, bevor die geschlossene Schlafzimmertür ihren wilden Ritt zum Stoppen bringt. Die verrückten fünf Minuten enden genauso abrupt, wie sie begonnen haben. Wie aus einer Trance erwacht, sieht sie sich blinzelnd um. Ganz erstaunt, als könne sie selbst nicht fassen, was da eben mit ihr passiert ist. Schüttelt nacheinander alle vier Pfoten kurz aus, springt auf den Laserdrucker im Arbeitszimmer, rollt sich zusammen und schläft ein. Manchmal bin ich fest überzeugt: Meine Katze spinnt. Aber angeblich haben alle Katzen ab und zu diese Anfälle von Raserei. Nur nicht jeden Tag, so wie meine.
Von dem Schreck muss ich mich erstmal erholen. Meine Hände hat es leider ziemlich erwischt. Ich mache mir noch einen Tee, setze mich aufs Sofa und telefoniere mit meiner Mutter in München.
„Na“, will sie wissen, „was macht dein Kind?“
„Naja, ganz so ist es ja nicht. Jessy ist immer noch meine Katze. Und nicht mein Kind. Und manchmal kann sie einfach tierisch nerven.“ Ich erzähle von der Attacke am Schreibtisch.
„Ich weiß ja, dass sie nur spielen will. Aber ich habe nun mal kein dickes Katzenfell. Manchmal würde ich sie echt am liebsten verwursten!“
Meine Mutter lacht.
„Komm, tu doch nicht so. Wenn du die nicht hättest, würdest du aber ganz schön alt aussehen, so allein in diesem Riesenhaus in deinem Käsenest da oben!“
Und im Stillen muss ich ihr Recht geben.
Als Pfarrerin in den ersten Amtsjahren konnte ich mir meinen Einsatzort leider nicht aussuchen und landete ganz im Norden von Bayern. Und meine wenigen Möbel, die eine Zwei-Zimmer-Wohnung in München-Englschalking gut gefüllt hatten, wirkten auf den 135 Quadratmetern des Pfarrhauses genauso verloren, wie ich mich fühlte.
Die