Augen auf, Alter
Wir kommen vom „Forum am Vormittag“ und überqueren die Straße. Ich gebe zu, nicht groß geschaut zu haben. Zu hören war nichts, und wer fährt schon bei Schneematsch mit dem Rad?
Da fallen obige Worte: „Augen auf, Alter!“ Er fuhr mit ziemlichem Tempo an uns vorbei. Er hätte ja auch bremsen und es bei „Augen auf!“ belassen können.
Doch so kränken mich seine Worte. Ich denke: gerade ihr Weimarer Studenten, von denen 10 von 100 abends ohne Licht fahren! Und ich denke: „Was ihr seid, das waren wir. Was wir sind das werdet ihr!“
Doch das reicht mir noch nicht, und ich schicke ihm noch in Gedanken nach: „Die Knochen sollst du dir brechen, alter Sack!“
Dabei weiß ich genau, dass ich der alte Sack bin!
Cosima-Song (S)
Damenwahl
Früher, sagen wir vor dem 2. Weltkrieg, hatte jedes Dorf mit Kirche auch einen eigenen Organisten. Wenn es nicht der Lehrer war, der die Orgel schlug, dann war es einer der Handwerker. So auch in unserem Dorf, das eine Bahnstation hat und an der Strecke zwischen Erfurt und Magdeburg liegt.
Es könnte sein, dass er Hermann Schilde hieß. Ich will mich nicht festlegen. Auf jeden Fall war er auch Pianist in der Dorfkapelle, die zum Tanze aufspielte. Und es war spät geworden, bevor er ins Bett gekommen war. Sonntagmorgen saß er aber wie immer auf der Orgelbank. Nach dem Motto „Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schaps.“ Doch konnte er nicht verhindern, dass ihm die Augen zufielen, kaum dass der Herr Pfarrer mit seiner Predigt begonnen hatte. Der Bälgetreter sah es mit Sorge. Aber zunächst machte es ja nichts, solange der Organist nicht zu schnarchen begann. (Vom jungen Johann Sebastian Bach wird berichtet, dass er während der Predigt sogar auf einen Schoppen Wein ins nahe gelegene Gausthaus ging. Damals predigten die Pfarrer allerdings deutlich länger als heute. Doch übel genommen hat man das dem Herrn Kantor auf jeden Fall. Und als er schließlich seinen Urlaub deutlich überzog, weil er in Lübeck Dietrich Buxtehude hören wollte, da war das der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.)
Doch zurück zu unserem Dorf. Als die Predigt zu Ende war, richteten sich aller Augen auf die Orgelempore, von der man das Vorspiel zum nächsten Choral erwartete. So ging der Junge, der für die Luft der Orgel zuständig war, zum Organisten und rüttelte kräftig an ihm. Der Organist erschrak, sprang auf und schrie laut: „Damenwahl!“ Darüber hat man Wochen lang gelacht, und Schilde hatte seinen Spitznamen weg.
Das legte sich erst, als ein kleiner Mann, der mit einer stämmigen Frau verheiratet war, die ihn eines Tages bei einer Auseinandersetzung verprügelte, sich nicht anders zu helfen wusste, als diese kräftig in einen der Oberschenkel zu beißen… Nun gab es eine neue Story, die man sich erzählen konnte: die vom Schenkelbeißer.
Das Baltische Buch ist weg
Seit wir wieder in Weimar leben, habe ich öfter Kontakt zu einem alten Schulfreund aus Gebesee, -einem ehemaligen Konfirmanden unseres Vaters -, der Historiker geworden ist: Jochen Kuhles. Er hat über die Reformation im Baltikum seine Doktor-Arbeit geschrieben („Studien zur sozialen Lage der Volksmassen und zu den Volksbewegungen zur Zeit der Reformation in Livland“), war Professor für Geschichte in Leipzig bzw. in Bonn, ist nach wie vor an allem Historischen interessiert, sitzt fast täglich in der Anna-Amalia-Bibliothek und hat zuletzt ein umfangreiches Werk über die Geschichte Gebesee’s „GEBESEE – Geschichte einer Kleinstadt im Spiegel thüringischer Geschichte, Teil I, Von den Anfängen bis zum Beginn der Preussischen Zeit 1815“ geschrieben, für dessen Druck er noch Sponsoren sucht. Natürlich gibt es schon eine Computer-Fassung, in die wir, meine Frau und ich, Einblick nehmen durften, und die wir mit Gewinn gelesen haben. Als Professor Kuhles eines Tages bemerkte, dass meine Frau ihrer Freundin Dorle wegen, die aus Reval stammt, an allem Baltischen Interesse hat, brachte er Patrik von zur Mühlen’s Buch „Baltische Geschichte in Geschichten, Denkwürdiges und Merkwürdiges aus acht Jahrhunderten“ vorbei, das wir beide gern gelesen haben.
Mich hat an dem Buch bewegt, dass diese Gegend um die Städte Reval, Dorpat und Riga, an der Ostsee und dem Finnischen Meerbusen gelegen, in starker Weise von den Deutschen Rittern geprägt und allezeit von den Begehrlichkeiten ihrer Nachbarn (Schweden, Polen, Rußland) bedroht, Amtssprache: deutsch, Religion: vorwiegend evangelisch-lutherisch, im Zuge des 2. Weltkrieges nach 800 Jahren so gänzlich dem deutschen Einfluss entrissen wurde …
Nachdem wir beide das Buch gelesen und uns darüber ausgetauscht hatten,
sollte es wieder zu seinem Besitzer zurück gehen, was aber in Vergessenheit geriet. Monate später, auf einem unserer Spaziergänge durch den Weimarer
Schlosspark, fiel mir die Sache wieder ein, und ich bat meine Frau, mir das Buch heraus zu legen, damit es wieder in die Hände seines Besitzers kommen könne. Es war ein Sonntag, und ich saß gerade an meinem PC, da kam meine Frau ganz aufgeregt mit der Mitteilung: „Das Baltische Buch ist weg! Du musst es deinem Schulfreund schon zurück gebracht haben!“ Das
hätte schon so sein können. Doch konnte ich mich nicht an den Vorgang erinnern. So ging ich zu dem Schrank im Wohnzimmer, wo es gelegen hatte, räumte zwischen Fotoalben, einigen Büchern und Medikamenten hin und her, und siehe da: Es fand sich wieder! So schnell kann es gehen. Wir sehen nicht mahr alles. Wir hören deutlich schlechter, Und wir können uns nicht mehr an alles erinnern. Joi-joi-joi. Wie soll das enden???
Das Taschentuch meines Vaters
Unser Vater war im Grunde seines Herzens ein Landwirt und Gärtner. Das hing nicht nur damit zusammen, dass er auf einem Bauernhof aufgewachsen war. Sondern auch damit, dass er nach dem Krieg sich und seine Familie aus dem Garten ernähren musste, weil er im Osten geblieben war, und sein Gehalt lange unter dem eines Arbeiters lag. Vater arbeitet gerne in seinem Garten und machte lange Ausflüge durch die Felder, um zu sehen, wie es mit Wachstum oder Ernte stand? Er liebte die alten Obstsorten des Pfarrgartens, verstand sich auch aufs Veredeln und war sehr stolz darauf, dass eines Tages drei Sorten von Birnen auf einem Baum Frucht trugen. Wenn er nach einer Taufe oder Trauung durch den Garten ging, konnte es geschehen, dass er im Anzug und mit guten Schuhen gleich einmal ein paar Reihen umgrub, bevor unsere Mutter ihn zur Ordnung rief und darauf bestand, dass er die Sachen wechselte.
Wenn Vater mir als Kleinkind einmal die Nase putzte, fiel mir der besondere Geruch seines Taschentuches auf, der mir in Erinnerung blieb, und den ich mir nicht erklären konnte.
Auch ich hatte als Pfarrer große Gärten zu bewältigen, was mir recht und schlecht gelang. Und Vater