VIER
Die Bibliothek des Sommerhauses war ganz in Leder und dunklem Holz gehalten. Sie hatte eine Terrasse, und von dieser aus beobachtete Nathaniel, wie sich langsam das dünne Licht der Dämmerung über die Insel senkte. Er schob seine Hände in die seidenen Taschen seines maßgeschneiderten Smokings. Der Horizont erinnerte ihn an das lila und goldene Licht der Abende in Brighton. Es hieß, ein Mann, der in der Dämmerung eines Sommerabends auf dem Gipfel des Mount Braelor stand, könne den Himmel über Brighton berühren, sein Schicksal einfangen und sein Glück machen.
Nathaniels Schicksal – und auch sein Glück – waren vorbestimmt. Auf dem „Berg“ des Hauses Stratton. Durch den in Marmor gemeißelten Stammbaum. Von Zeit zu Zeit überkam ihn ein Anflug von Platzangst. Aber diese paar Tage in Georgia hatten sein Herz etwas geöffnet. Hier an dieser heißen Küste zu stehen, erinnerte ihn daran, dass die Welt ein grandioser, fruchtbarer Ort war. Es ließ ihn glauben, dass alles möglich war. Beispielsweise wahre Liebe zu finden. Oder seine Bestimmung vollständig zu akzeptieren.
Nathaniel kehrte in die Bibliothek zurück und verschloss die Terrassentüren hinter sich. Er überflog die Dokumente und Berichte, die auf dem Schreibtisch seines Ur-Urgroßvaters ausgebreitet waren. So viel Juristerei und Amtssprache, mit dem er sich auseinandersetzen musste.
„Bist du soweit?“ Jonathan trat in die Bibliothek und schlüpfte in seine Smokingjacke. „Liam fährt den Wagen vor.“
„Hast du meine Rede ausgedruckt?“ Nathaniel sortierte die Dokumente in Mappen, stapelte sie ordentlich aufeinander und legte sie auf den Schreibtisch.
Jonathan kam zu ihm herüber und hielt ihm das Papier hin. „Ich habe sie quergelesen. Gut gemacht. Das wird Mrs. Butler gefallen.“
„Sie sagte, sie wollte, nur ein paar Worte‘. Etwas darüber, dass Urgroßvater sich so für den Ausbau und die Modernisierung des örtlichen Krankenhauses eingesetzt hat.“ Als Urgroßvater St. Simons zu seinem Sommerdomizil erkoren hatte, hatte er dem Krankenhaus ansehnliche Summen gespendet. Wie Nathaniels Großvater und Vater nach ihm.
Nathaniel ging um den Schreibtisch herum und überflog die Worte, die er mit Jonathans Hilfe verfasst hatte.
Wir sind geehrt, meinen Vater, den König und das gesamte Königreich Brighton hier und heute zu repräsentieren …
… stiften einen Flügel des Krankenhaus zu seinen Ehren … bitte akzeptieren Sie unsere Spende als die Früchte unserer guten Absichten und Gesundheit …
Er konnte den Worten in seinem Kopf zuhören. Seine Worte. Aber mit ihrem Akzent. Susannas. Ein singender Tonfall, voller Süße.
Das schöne Mädchen von der Liebeseiche. Drei Tage waren vergangen, seitdem er ihr geholfen hatte, das Rad zu wechseln, und sie schlich sich immer noch unerwartet in seine Gedanken.
Wie jetzt, als er seine Rede noch einmal las. Oder als er am Strand laufen war. Oder in den Momenten kurz vor dem Einschlafen.
„Bist du auf etwas Interessantes gestoßen?“
Nathaniel richtete seine Aufmerksamkeit auf Jonathan, der an den Tisch getreten war und den Stapel betrachtete, durch den sich Nathaniel gearbeitet hatte.
„Nur das, was wir sowieso schon wussten. Das Großherzogtum Hessenberg erlangt die Unabhängigkeit von Brighton, wenn wir einen königlichen Erben dafür auftun.“ Im Moment erschien Nathaniel die Aufgabe, einen verschollenen Hessenbergerben zu finden, der Suche nach der wahren Liebe nicht unähnlich. Unmöglich. „Andernfalls wird das Großherzogtum zu einer Provinz von Brighton.“ Diese Tatsache schürte die Angst in Nathaniels Herzen. Als jemand, dessen Schicksal schon vor seiner Geburt festgestanden hatte, hatte er volles Mitgefühl mit Hessenberg. Es verdiente seine Unabhängigkeit, wenn es nur irgendwie machbar war.
Freiheit, Unabhängigkeit, war von unermesslichem Wert. Gar nicht zu reden von der Beziehung zwischen den beiden Ländern, die inzwischen sehr der von zwei streitenden Geschwistern ähnelte. Immer öfter gerieten sie aneinander. Und im Laufe des letzten Jahrzehnts waren Hessenbergs wirtschaftliche Schwierigkeiten zu einem greifbaren Problem für Brighton geworden.
Sie konnten es sich nicht länger leisten, Hessenberg weiter finanziell auszuhelfen. Aber die Bedingungen des Erblehens waren eisern. Erbe oder Provinz.
„Ich kann mir nicht vorstellen, wie es gewesen sein muss, König Nathaniel I. zu sein oder Prinz Franz … Eine Vereinbarung auszuhandeln, während der Krieg sich immer deutlicher abzeichnete, mit den königlichen Cousins ein diplomatisches Tänzchen über Europa zu tanzen … mit dem Kaiser, König George V., Zar Nicolas II.“ Jonathan blätterte durch die Kopie des Erblehens. „Russland knickt ein, Deutschland droht, die südlichen und nördlichen Häfen Hessenbergs sind Angriffen ungeschützt ausgeliefert.“
„Welche Wahl hat sich Franz denn gelassen? Er hatte Hessenbergs Vermögen und Ressourcen verprasst mit seinem Lebenswandel und gleichzeitig versucht, mit seinen wilden Erfindungen den industriellen Fortschritt zu bringen. Dieses Auto, das er da gebaut hat, Starfire 89, das war wirklich nur etwas für Könige. Für die normalen Leute völlig unbezahlbar.“
„Jetzt ist der Wagen Millionen wert … wenn dann mal einer zu kaufen ist.“
Jonathan klappte die Dokumentenmappe zu und legte sie wieder auf den Schreibtisch. „Diese ganze Sache wird nicht gerade einfacher dadurch, dass Franz möglicherweise gar nicht lesen konnte.“ Er sah auf seine Uhr. „Liam wollte den Wagen vorfahren. Bist du so weit?“
„Ja, ja, lass uns fahren.“ Nathaniel klopfte seine Jacke ab. Wo hatte er seine Notizen eben hingesteckt? Ah, in seiner Brusttasche. „Ich beneide sie nicht gerade darum, im Schatten des Krieges eine Vereinbarung zu entwerfen. Noch dazu eine, die die Aufgabe von Land, Autorität und allen Rechten auf den Thron von Hessenberg verlangte, um die Brightons Souveränität zu gewährleisten.“
„Dann sei dankbar dafür, dass du das Ende der Vereinbarung vor dir hast und nicht den Anfang.“
„Das Ende tröstet mich nun auch nicht gerade.“ Nathaniel legte die Hand auf den Stapel aus Dokumenten und Tagebüchern, als er am Schreibtisch vorbeiging. „Ich dachte, meine größte Aufgabe sei es, die wahre Liebe zu finden.“
Selbst wenn sich Vaters Gesundheitszustand stabilisieren sollte, war es mehr als wahrscheinlich, dass Hessenberg eine Provinz von Brighton sein würde, wenn Nate König wäre. Seit sechzig Jahren hatte man nichts von einem Erbe des Hauses Augustine-Sachsen gehört hatte.
„Liebe? Ah, du suchst nach einer Frau, die in der Lage ist, gleichermaßen die Königin deines Herzens und deines Landes zu sein? Um dafür zu sorgen, dass das Haus Stratton weiterlebt?“
„Du verspottest mich, mein Freund.“ Nathaniel klopfte ihm auf die Schulter, als er an ihm vorbei durch die Tür ging.
„Dich verspotten? Nein, ich beneide dich. Es gibt eine ganze Reihe Kandidatinnen, aus der du dir deine Herzkönigin aussuchen kannst.“
„Die meine Krone wollen, nicht mein Herz.“
„Von denen Lady Genevieve die Unbedeutendste ist.“ Jonathans Tonfall war neckend, herausfordernd.
„Ich seh schon, es war dumm von mir, das Thema Liebe aufs Tapet zu bringen. Können wir jetzt einfach mit dem Abend weitermachen?“
Draußen in der Auffahrt stand Liam in seinem dunklen Anzug und Sonnenbrille wartend neben dem Wagen. Er sah aus wie eine Figur in einem Film. Das war einer der Gründe, warum Nathaniel den ehemaligen Major der Sondereinsatzkräfte mochte. Er sah so sehr danach aus, dass man kaum glauben konnte, dass er wirklich ein königlicher Sicherheitsbeamter war.
Auf dem Weg zu Mrs. Butler schwieg Nathaniel nachdenklich, während sie durch das rosige Abendlicht fuhren, das durch die Blätter der mächtigen Eichen fiel, die die Straße säumten. All das Reden über seine Vorfahren und das Abkommen von 1914 befeuerte die Zweifel, die ihm in den Knochen saßen. War dieser Ruf, König von Brighton zu