„Mama, ich wünschte, ich wäre ein Vogel. Frei wie ein Vogel! Dann würde ich hoch in die Lüfte schweben und die Welt von oben beobachten. Ich würde das Apfelbäumchen in unserem Garten sehen, hinunter segeln und einen Apfel abzupfen. Ja, und ich würde mich wieder vom Wind nach oben treiben lassen, den Apfelstiel im Schnabel. Und irgendwann würde ich einen bösen Menschen finden, tief unten in den Städten. Dann würde ich runter fliegen, aber nicht zu tief, damit mich niemand sieht und dann würde ich den Apfel fallen lassen, dass er genau auf diesen bösen Menschen trifft.“
Mit breit ausgestreckten Armen ahmte Peter einen Vogel nach und lief dabei, mit seinem Schatten spielend, in Schlangenlinien um Anna herum. Schließlich blieb er vor ihr stehen, verschränkte seine Arme hinter dem Rücken wie ein Häftling, blickte zu ihr hoch und fuhr fort: „Weißt du, was ich dann machen würde? Lachen! Ganz laut lachen!“
„Ach, wenn du ein Vogel wärst, würdest du dich nicht freuen. Keinen Augenblick wärst du glücklich darüber. Du würdest alles sehen, was die Menschen tun. Gutes und Schlechtes. Und du würdest alles hören, auch das Boshafte, was in den engen Gassen getuschelt wird. Du würdest dir dann wünschen, ein Maulwurf zu sein. Der sieht nichts. Der hört nichts. Der lebt in einer anderen Welt, tief unter der Erde. Und vielleicht ist es sogar eine glücklichere Welt.“
„Ich wünschte, du wärst ein Zauberer und könntest diese Welt in ein Paradies verzaubern.“
„Aber mein Kind, die Welt muss man gar nicht verzaubern. Man muss nur die Leute verzaubern, die darauf leben. Man muss sie in Menschen verzaubern.“
„Wer kann so etwas machen?“
„Jeder. Jeder Mensch kann in seinen Träumen zaubern wie eine Fee. Und wühlen wie ein Maulwurf. Und auch schweben wie ein Vogel.“ Bei dem letzten Satz lachte sie, denn die Fantasie ihres kleinen Jungen beeindruckte sie.
„Wenn ich groß bin, zeigst du mir dann das mit dem Träumen?“
„Auf jeden Fall, mein Schatz!“
„Und solange ich das noch nicht kann, Mama, träumst du mir die Welt schön, versprochen?“
„Großes Mama-Ehrenwort!“
„Du, Mama.“
„Hhm?“
„Das Leben ist so...“ Peter brach den Satz ab. Ihm fiel nicht das richtige Wort ein, deswegen bot ihm Anna eines an. Eines, das zumindest für einen Erwachsenen ganz treffend gepasst hätte.
„Schwierig?“
„Doof! Das Leben ist doof!“ Bei diesen Worten lief eine Träne über die weichen Konturen seines Gesichtes.
„Ach, mein Kind, sag doch nicht so etwas! Du bist erst sechs Jahre alt! Das Leben kann sehr schön sein. Aber das ist es nur, wenn du auf Entdeckungsreise gehst. Und dazu musst du dein Herz öffnen und bereit sein, das Leben so anzunehmen, wie es ist. Du wirst viele Farben aufspüren, die du vorher noch nie bemerkt hast. Deine Urgroßmutter hat immer gesagt: Nur wer die Farben des Lebens kennt, kann das Geheimnis der goldenen Brücke lüften.“
*
„Folge meinem Schatten!“, stöhnte ES. „Ich werde dir den Weg zur goldenen Brücke schon zeigen. Das Leid wird deine Sinne schärfen.“ Dann lachte ES Furcht erregend.
*
„Wo ist die goldene Brücke?“
„Ich weiß es nicht. Aber dein Herz kann es dir sagen. Denn es begleitet dich überall hin. Auch in die Träume.“
Wäre Peter dreißig Jahre älter, würde er vermutlich gegenhalten, dass man manche Farben lieber nicht aufspüren sollte. Vermutlich würde er dann das Gespräch mit einem Satz beenden wie: „Wenn ich alle düsteren Tage zusammen nähme und würde um diese Zeit später auf die Welt kommen, wäre ich wohl erst sechs Jahre.“
Wie gut, dass Peter tatsächlich erst sechs Jahre alt war.
*
Am nächsten Tag, als die Schule nach dem Pausengong ihre Schüler wie zähflüssigen Haferbrei ausspuckte, war Peter zwar nicht gleich der Erste, der den Pausenhof betrat. Gut, es rollte dann noch eine ganze Lawine von Kindern auf den Hof, aber schließlich sah man auch Peter in der Menge.
Er war der Letzte.
Eine schmächtige Gestalt, schwarze, gelockte Haare im Kurzhaarschnitt. Er trug eine blaue Jeans und einen schwarzen Pullover mit einer Mickey Mouse auf der Bauchseite.
„Hallo Mickey Mouse!“, rollte ein abschätziges Gelächter zu ihm. Panik! Angst! Diese Stimme kannte er! Er musste weglaufen. Irgendwohin. Aber wohin? Er drehte sich nach rechts. Nach links. Genau: ins Gebäude. Ins Lehrerzimmer! Er rannte los. Er wollte jedenfalls losrennen. In der rechten Hand ein belegtes Brot. In der linken Hand eine Milchschokolade. Im Tetra-Pack. Mit Strohhalm. Plötzlich ergriff eine Hand seinen Pullover. So grob wie der Arm eines Krans. Sie ballte sich zur Faust. Wie sehr wünschte er sich, dass sein Pulli zerriss. Er, dann von der Faust befreit, losrennen und im Lehrerzimmer Schutz suchen konnte. Doch nichts dergleichen geschah. Die drei Gestalten stellten sich vor Peter, um ihm den Weg zu versperren. Einer von ihnen ergriff die Milchschokolade, der andere das Pausenbrot. „Danke für die Milch, Mickey Mouse“, spottete Mirko. „Ist da noch was drin für mich?“ Schmieriges Grinsen. Zum Teufel mit diesem Mistkerl! Der Mistkerl drückte den Trinkbehälter zusammen, die Milch schoss wie eine Fontaine aus dem Strohhalm heraus und direkt auf Peters Gesicht und Pullover. „Das tut mir aber außerordentlich leid, Mickey Mouse.“ Es klang alles andere als bedauernd.
Peter schwitzte, seine Hände waren feucht, sein Herz raste und die Füße waren kalt. Typische Anzeichen von Angst. „Schon in Ordnung.“ Verängstigt und leise stolperten Peter diese Worte heraus. Als er ansetzte um zu sagen: „Ihr könnt die Milch behalten“, krallte sich plötzlich von hinten eine Hand in Mirkos rechte Schulter. Peter konnte nicht sehen, wem sie gehörte, die Milch klebte auch an seinen Augen und überzog sein Blickfeld mit einem weißen Schleier. Eine ruhige, aber ernste Stimme sagte: „Möchtest du denn dem Jungen seine Milch nicht zurückgeben?“ Vom ersten bis zum letzten Wort zwängten sich die Finger wie eine Zange immer fester in Mirkos Schulter, es wurde so schmerzhaft, dass es sich anfühlte, als würden jeden Moment die Knochen brechen. Die anderen beiden hatten die Person mittlerweile bemerkt und blieben regungslos stehen.
„Ja, klar. Hier, bitte“, stotterte Mirko leise, bemüht, jetzt bloß keinen Schmerzensschrei von sich zu geben und übergab mit zittriger Hand die Milchschokolade. Peter hatte sich inzwischen die Milch aus den Augenwimpern gewischt und begann nun auch, die Lage zu begreifen. Nun lächelte er einem ihm sehr vertrauten Gesicht zu. Es war seine Mutter. „Es gibt Menschen im Leben“, fuhr sie in ruhigem Tenor fort, „denen sollte man keine Probleme machen. Sonst kann es passieren, dass man selbst Probleme bekommt. Verstehst du das?“ „Ja. Klar. Keine Probleme machen“, wiederholte Mirko mechanisch, zwischen jedem Satz eine kurze Pause, vielleicht, um den Schmerz in der Schulter besser zu verkraften. „Gut“, schloss Anna, „dann wird dieser Junge ab sofort in Ruhe gelassen.“ Und erst, als Mirko mit „Jawohl“ ihrer Aufforderung nachkam, ließ der Griff nach und hinterließ einen beißend stechenden Schmerz. „Wer sind Sie?“, wollte ein anderer Junge wissen und Anna warf ihm einen drohenden Blick zu: „Euer schlimmster Albtraum, wenn ihr euer Versprechen brecht.“ Dann drehte sie sich von ihnen ab und verließ den Schulhof. Sie hatte Peter kurz zugelächelt, aber sie hielt es für klüger, mit ihm zu Hause zu sprechen.
Es ist eben gut, einen Freund zu haben. Aber es ist besser, einen Freund zu haben, der für uns da ist, wenn wir ihn brauchen. Am besten ist es aber, einen Freund zu haben, der für uns auch da ist, wenn wir ihn nicht brauchen. Vielleicht wird er uns daran erinnern, dass wir ihn gerade in diesen Momenten am meisten brauchen, wo wir es am wenigsten ahnen.