Ričardas Gavelis
Friedenstaube
Sieben Vilniusser Geschichten
Aus dem Litauischen
von Klaus Berthel
ATHENA
Literatur aus Litauen
Band 1
Umschlagabbildung: »Taikos Balandis« von Marius Liugaila
Die litauische Originalausgabe erschien 1995 bei Alma Littera, Vilnius unter dem Titel »Taikos Balandis. Septyni Vilniaus Apsakymai«
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
1. Auflage 2012
Copyright © 1995 by Ričardas Gavelis,
Copyright © 2012 by ATHENA-Verlag,
Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen
www.athena-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Katja Niehörster
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (Print) 978-3-89896-211-7
ISBN (ePUB) 978-3-89896-826-3
Nachdem ich ein Jahr lang keine Kurzprosa mehr geschrieben hatte, spürte ich das magische Bedürfnis, mich erneut diesem Genre zu widmen. Der Titel des Bandes ist einer älteren Erzählung entnommen, traurig-sarkastisch »Friedenstaube« genannt. Damals brachte eine Vilniusser Taube dem Helden Hass und Vernichtungswut entgegen. Leider ist dieses verhängnisvolle Geschöpf hinübergeflattert in unsere Tage. Es gibt keine Eintracht unter den Fliederbäumen von Vilnius. Da verwandelt sich eine metaphysische Liebe in ein fiktives Verbrechen. Da schreiben Hunde blutige Tagebücher. Da gelingt es einem allwissenden Arhat, sich nahe der Karoliniškės in Luft aufzulösen. Und all das unter den gespenstischen Blicken von siechen, hinkenden Stadttauben, Sendboten eines Friedens, der keiner ist.
Ričardas Gavelis
Friedenstaube
Als ich ihn zum ersten Mal sah, diesen gefiederten Satan, war mein Verstand wahrscheinlich vernebelt gewesen. Ich hätte doch gleich kapieren müssen, und wie. Freilich war es entsetzlich heiß, bunte Ringe tanzten einem vor den Augen, der Kopf schien gleichsam mit trockenem Gras ausgestopft. Diese Hitze hat etwas Ungutes, dachte ich sogleich. Staub hatte sich über die Stadt gelegt, alle möglichen Gerüche waberten, ihnen allein schienen diese Temperaturen von Nutzen. Schweißgebadet kehrte ich heim, da wartete vor der Haustür bereits dieses Gestalt gewordene Verhängnis auf mich. Eine Taube, aber was für eine! Nicht mal richtig stehen konnte die, ständig kippte sie zur rechten Seite weg und musste sich mit dem Flügel abstützen. Eine rechte Missgeburt, die auch gar nicht daran dachte, wegzulaufen oder gar davonzufliegen. Die mich nur anstarrte. Weder Bösartigkeit noch Furcht waren in diesen gelben Knopfaugen zu lesen, eigentlich gar keine Emotionen. Und doch lief mir ein Schauder den Rücken hinunter. Mir schien, als blicke ein anderer da hindurch. Und dass man wahnsinnig würde, wenn man diesem Blick länger standzuhalten versuchte. Ich dreh’ ihr den Hals um, dachte ich unwillkürlich, aber die Beine gehorchten mir nicht. Ich konnte nur einen großen Bogen um die Erscheinung machen, mich zu nähern, fehlte mir der Mut. Widerlich war sie obendrein, dreckig, es konnte einem übel werden. Dass die Taube das rechte Bein nachzog, bemerkte ich zu dieser Zeit noch nicht.
Später bemerkte ich nicht nur das. Auch jetzt noch habe ich dieses Geschöpf vor Augen, dessen Vogelkrallen direkt auf das Herz zielen. Ein Wunder, dass ich überhaupt noch eins habe. Man hat sich alle Mühe gegeben, es mit scharfen und spitzen Gegenständen zu bearbeiten. Inzwischen ist es mit so vielen Narben übersät, dass ich gar nichts mehr spüre. So sieht es aus, ein rechtes Litauerherz. Schmerzresistent.
Ich schleppte mich also in mein Zimmer, noch immer verwirrt und erschrocken, die ganze Hitze von draußen nahm ich mit rein. Alle in der Umgebung hatten die Fenster sperrangelweit offen, saßen mit freiem Oberkörper, dösten vor sich hin. Auch ich machte mich gerade am Fenster zu schaffen, da erstarrte ich. Man wartet ja mitunter geradezu darauf, dass sich dunkle Prophezeiungen erfüllen, und hofft dennoch, ihnen irgendwie zu entgehen. Und da – ein Blitz aus heiterem Himmel.
Die Taube hockte bereits in meinem Zimmer.
Wie hatte sie das geschafft, lahmend, ohne zu fliegen? Aber den eigenen Augen durfte man trauen. Jetzt konnte ich sie genauer betrachten. Und wieder ein Schock. Die Federn waren zerzaust und mit Kot beschmiert, der Hals fast kahl und mit grindigem Schorf bedeckt, wo sich obendrein, was besonders ekelhaft war, winzige weiße Maden tummelten. Ich stürzte los, sie zu verjagen, aber die flog natürlich nicht, obwohl sämtliche Fenster geöffnet waren. Sie flüchtete unter einen Stuhl, dann unters Bett. Ich werde sie totschlagen, entschied ich abermals, dann den Kadaver in eine Zeitung wickeln und hinausbefördern. Sie nur nicht anfassen! Schon hatte ich ein schweres Buch aus dem Regal gezerrt, ich beugte mich hinunter, der Atem stockte, die Hände zitterten.
Und da flatterte mir dieses Scheusal direkt ins Gesicht.
Auf dieser Welt habe ich schon Dinge erfahren müssen, die ich wirklich niemandem wünsche. Aber so etwas noch nicht. Das schlug mir seine Stummelflügel mitsamt dem Gewürm darin um die Ohren, Aasgeruch nahm mir die Luft. Und dazu diese Augen, die erbarmungslos waren. Und kalt wie der Tod. Ich stand da, gelähmt vor Ekel und Entsetzen. Selbst die Zeit schien stehen geblieben.
Und mir war, als hätte mir jemand ins Ohr geflüstert, dass es von nun an jeden Tag so sein würde. Unwillkürlich bekreuzigte ich mich, wie man sich vor bösen Geistern bekreuzigt, obwohl ich wusste, wie naiv das war. Nur alte Betschwestern glauben an den lieben Gott. Alles, aber auch alles, was uns widerfährt, ist Menschenwerk, allein der Mensch ist zum Fürchten. Er stellt die Dämonen und bösen Geister, er allein erdreistet sich, Gott zu spielen. Jedes Tier bin ich zu lieben fähig, jedes. Mit den Tigern im Dschungel würde ich mich anfreunden, in einer Schlangengrube mich einrichten. Auch der Wolf ist gut, auch der Esel klug, auch die Schlange schön. Aber sollte es mich mit unsereinem auf eine unbekannte Insel verschlagen, es wäre nicht zum Aushalten. Lieber gleich einen Strick nehmen. Die wildesten Köter balgen sich, bis der eine obenauf ist, der andere ihm den ungeschützten Unterbauch zudreht. Im Vertrauen, dass der ihm nicht das Gedärm aus dem Leib dreht, ihm nicht die Kehle durchbeißt. Aber der Mensch – unbedingt. Er ist das fürchterlichste Wesen, und zwar deshalb, weil er Verstand hat. Die bösen Geister hat er erfunden, um ihnen die eigenen Schandtaten aufzubürden.
Längst hatte ich begriffen, dass diese Taube keine Taube war. Das roch nach Mensch, nach Menschengeist. Und es gab nur einen, der einen solchen Pesthauch verbreiten konnte – Kazimieras Rugaitis. Darauf bin ich nicht sofort gekommen, natürlich nicht. Erst nach und nach fügte sich alles zusammen.
Rugaitis hatte zuletzt ganz in meiner Nähe seinen Wohnsitz. Absichtlich, ich weiß es. So ein Herrenmensch hätte sich doch irgendwo in Antakalnis niederlassen können, standesgemäß, in der Nähe eines Kiefernwaldes. Die Gegend hier war ziemlich trostlos. Es heißt, die Wohnung dort habe er seinen Kindern vermacht, aber ich kenne den wahren Grund. Ich sollte ihn alle Tage zu sehen bekommen. Ein Leben lang hat er mich belauert, hat Vergnügen daran gefunden, mich zu quälen und zu demütigen. Ständig spazierte er hier vorbei, eine gnomenhafte Gestalt, den Bauch herausgestreckt, das kleine Gesicht rot und rund. Mit den Nachbarn pflegte er zu schwatzen, den Mädchen stieg er nach. Man muss sich das vorstellen, dieser alte Knacker und junge Mädchen. Mich beachtete er nicht, tat so, als sei ich Luft für ihn. Es gibt solche Leute: Hassen sie dich, dann blicken sie jedes Mal zur Seite, wenn du dich näherst. Nie können sie sich deinen Namen merken, verdrehen nur die Augen – na, der, wie heißt der gleich, dieser Dingsda. Und du weißt doch, dass dein Name und Vorname ihnen die Galle ins Blut treibt, ihnen schlaflose Nächte beschert. Schauspieler sind sie alle, aber Rugaitis war der größte. Der wechselte nicht nur die Hautfarbe wie ein Chamäleon, sondern auch noch die Augenfarbe und die