Frank Westermann
Inseln der Macht
Band 2 der Serie »Andere Welten«
FUEGO
- Über dieses Buch -
Handlungsort: Ein Inselstaat unter totalitärem Regime
Die eine Seite: Ein Diktator, geballte Wirtschaftsmacht, Militär und Polizei und ein ausgeklügeltes Unterdrückungssystem
Auf der anderen Seite: Ein Volk, das von der Hand in den Mund lebt, Slums, Sekten, und Jugendbanden
… darunter: viele Personen und Gruppen, die Widerstand leisten
… und mittendrin: Speedy und seine Freunde … und dann sind da noch die Ausserirdischen …
I was born in a welfare state
ruled by burocracy
controlled by civil servants
and people dressed in grey.
Got no privacy
got no liberty
'cause the 20th century people
took it all away from me.
We gotta get out of here
we gotta find a solution
I'm a 20th century man
but I don't wanna be one.
The Kinks - »20th Century Man«
1.
LERC
Also, das Saubermachen hatte ihn ganz schön angestrengt. Ein Zeichen dafür, dass er nicht mehr fit war - überhaupt nicht mehr. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Aber das Ganze hatte seinen Zweck erfüllt: es hatte ihn für eine Stunde abgelenkt.
Er stellte den Staubsauger in die Ecke, drehte die überlaute Musik ab und warf einen letzten Blick in die Küche. Okay. Vielleicht konnte er jetzt etwas ruhiger an alles rangehen. Er vergewisserte sich, dass die drei Schlösser und die Alarmsicherung in Ordnung waren, und verließ dann ruhig die Wohnung, stieg die vielen stumpfen Stufen hinab und stand schließlich in der brütenden Hitze.
Die Sonne stach unbarmherzig herab, und er verwünschte es, dass er seinen Hut oben gelassen hatte. Egal, er hatte keine Lust zurückzugehen.
Seine Schritte führten ihn durch die engen, schmutzigen Straßen des Proletarier-Viertels. Gleich dahinter begannen die Slums, aber da ließ er sich lieber nicht blicken. Er hatte kein genaues Ziel, hoffte nur, seine Gedanken bei dem Spaziergang etwas ordnen zu können. Er übersah die herumlungernden Süchtigen, die Bettler und Schwarzmarktverkäufer, die Marktschreier und die abgemagerten alten Leute, die vor den Haustüren der grauen, hohen Wohnblocks saßen. Das alles gehörte zum gewohnten Bild, und er nahm es kaum noch wahr.
Er kam an der Ruine vorbei. Das Haus war vor drei Tagen zusammengestürzt. Es hatte eine Menge Tote und Verletzte gegeben. Die Trümmer waren provisorisch von der Straße geräumt worden, sonst sah alles noch aus wie vorgestern. Immer noch hing der üble Geruch in der Luft und Kinder stocherten in dem Schutt herum in der Hoffnung, irgendetwas Wertvolles aufzustöbern. Er ging automatisch schneller.
Er war extra nicht mit den anderen ans Meer gefahren und war auch nicht zum Übungstermin gegangen. Er wollte allein sein, und es war ihm nur recht, dass die Wohnung leer war. Nicht, dass er besonderen Ärger mit seinen Mitbewohnern/innen gehabt hätte - höchstens mit Jungo war die Atmosphäre etwas gespannt. Aber er musste endlich mal zu einer Entscheidung kommen, was die »Gruppe« betraf. Er fühlte sich dort zunehmend unwohl, wusste aber nicht genau, woran das lag.
Teilweise natürlich an den Leuten, allen voran Christer. Sein ganzes Gehabe kotzte ihn schon von weitem an. Es war unübersehbar, dass er sich dauernd als Chef aufspielte. Es hatte deswegen schon mehrere harte Auseinandersetzungen zwischen Christer und ihm gegeben. Aber es hatte nicht viel gebracht. Er stand auf verlorenem Posten. Die anderen schlossen sich entweder Christers Meinung an, hüllten sich in betretenes Schweigen oder probierten es mit dämlichen Schlichtungsversuchen.
Veila tat sich da besonders hervor, - und das war auch ein Grund dafür, dass sie sich aus dem Weg gingen. Sie hatten seit Tagen kaum ein Wort miteinander gesprochen, obwohl sie noch vor drei Wochen fest geglaubt hatten, unsterblich ineinander verliebt zu sein.
Lerc lachte höhnisch vor sich hin. Scheiß drauf'. Keine/r traute sich, ein offenes Wort zu sprechen. Man ließ die Sache lieber versanden. Großes Reden über solche Probleme war schon immer seine Schwäche gewesen. Er wusste außerdem (es war ja auch kein Geheimnis), dass Veila es jetzt auf Christer abgesehen hatte. Das machte ihm auch gar nicht so viel aus, es ärgerte ihn nur, dass er nicht imstande war, seine Beziehung zu ihr erst mal abzuklären.
Dann die Arbeit der Gruppe. Sie beschränkte sich in letzter Zeit auf Wiederholungsaktionen und Flugblattschreiben. Niemandem fiel mehr etwas Neues ein und anscheinend hatte auch keine/r Lust darüber nachzudenken. Die politische Arbeit versackte wie seine Beziehung zu Veila. Es gab auch keine Ansätze zu ernsthafter theoretischer Diskussion mehr. Jede/r bastelte an eigenen Revolutionstheorien. Vielleicht machte der stärker werdende Einfluss des Militärs alle so hoffnungslos. Aber auch das war vorauszusehen gewesen. Nach dem schnellen Sieg über Neu-Ing hatte das Militär auf den Inseln die besten Trümpfe in der Hand und hatte sie im letzten halben Jahr mit Erfolg ausgespielt. Und demnächst würde es am Ruder sein. Schon jetzt kontrollierte es praktisch alle Entscheidungen des Diktators und der zivilen Schattenregierung. Aber auch das Militär würde den Zerfall nicht aufhalten können.
Der Sieg über Neu-Ing hatte alles nur etwas hinausgeschoben. Lerc blieb stehen - und holte sich am Kiosk eine Cola. Auch Alkohol gab's wieder offiziell. Rationierungen bestanden nur noch bei Fleisch und Gemüse. Tja, es war alles wieder da. Bloß konnte es sich kaum jemand kaufen. Die Arbeitslosenzahl stieg weiterhin kräftig und da hatte die neue Kolonie nur das ihre hinzugetan. Vielleicht sah es in dem einst so gelobten Staat jetzt schon schlimmer aus als hier - obwohl er sich das nicht vorstellen konnte.
Eine gepanzerte Luxuslimousine fuhr rasch vorbei. Selten, dass sie sich hier sehen ließen. Und hinter den Scheiben saß ein Weißer. Die Manager aus Neu-Ing hatten sich jetzt auch auf den Inseln niedergelassen. Solche Kriege wurden immer von den oben Sitzenden gewonnen, egal welche Hautfarbe sie hatten oder ob sie der »siegreichen« oder »besiegten« Nation angehörten. Er spuckte dem Wagen hinterher. Die Villen der kleinen, reichen Oberschicht waren weit weg auf anderen Inseln. Nur ihr bewaffneter, regierender Arm saß hier.
Die Trostlosigkeit der Gegend änderte sich nicht, als er weiterging. Nur an den Stränden konnte man von Landschaft sprechen. Er setzte seinen Weg fort, und seine Gedanken kehrten zum Ausgangspunkt zurück.
Er wusste nicht, was ihn außer der Gruppe noch sonst störte, dass er so deprimiert rumhing. Zuhause lief alles ganz gut, vielleicht etwas langweilig, eingefahren, weil die Beziehungen untereinander alle abgeklärt schienen. Er glaubte, dass viel mehr rauszuholen wäre, aber auch hier hatte er keine Ahnung, wie er das anpacken sollte. Aber das machte ihm, wie gesagt, weniger Sorgen, denn er fühlte sich da wirklich wohl.
Und in der Band erst recht. Jetzt, nachdem es so richtig angelaufen war, machte es ihm wahnsinnig Spaß und er freute sich auf jedes Treffen - mit Ausnahme von heute. Demnächst war ihr erster Auftritt fällig - eine Informationsfete der Studentenorganisation. Nichts Besonderes, aber es würde bestimmt Spaß machen, da bei solchen Anlässen immer eine Menge Leute zusammenkamen.
Ging es eigentlich im Moment für ihn darum Entscheidungen zu treffen, außer der, die unausgesprochenen Sachen endlich anzugehen?