Georg W. Bertram
Hegels »Phänomenologie des Geistes«
Ein systematischer Kommentar
Reclam
Durchgesehene Ausgabe 2021
© 2017, 2021 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961252-2
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019443-0
Einführung
Eine Lektüre von Hegels Phänomenologie des Geistes (PhG) sieht sich mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert. Hegel galt und gilt für viele der ihm nachfolgenden Philosophinnen und Philosophen als ein besonders unzugänglicher Autor. Oft wurde er als Dunkelmann gescholten und aus der philosophischen Tradition verbannt. Zugleich aber ging von Hegel immer eine besondere Faszination aus, die sich zum Beispiel inzwischen darin niederschlägt, dass er in der sogenannten sprachanalytischen Tradition, in der er lange Zeit verpönt war, mehr und mehr rezipiert wird.1 Für die entsprechenden negativen und positiven Vorurteile Hegel gegenüber ist besonders seine PhG verantwortlich. Sie sticht aus Hegels Werk heraus. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass es sein erster großer Wurf und zugleich ein sehr eigenwillig komponiertes Buch ist. Die PhG bietet einerseits eine umfassende Weiterentwicklung der großen philosophischen Entwürfe von Kant, Fichte und Schelling – Hegels Vorgängern. Dabei führt sie in umfassender Weise Fragestellungen der theoretischen und der praktischen Philosophie zusammen. Andererseits entwickelt sie eine großangelegte Rekonstruktion der abendländischen Philosophie- und Geistesgeschichte. Schon allein die Kombination dieser unterschiedlichen Zielsetzungen hebt die PhG auch aus Hegels Werk heraus: Es ist ein rundum hybrides Buch.
Den weitreichenden Ambitionen des Textes stehen die Leserinnen und Leser aber in mancher Hinsicht hilflos gegenüber. Oftmals gewinnen sie – zu Recht – den Eindruck, dass Hegel nicht klar sagt, was er eigentlich sagen will. Zudem bleibt immer wieder unklar, warum Hegel in so komplexer Weise historische Überlegungen mit systematischen Überlegungen verbindet, so dass sich an unterschiedlichen Stellen des Textes die Fragen stellen, welche Bedeutung die historischen Bezüge haben und warum Hegel es nicht bei systematischen Überlegungen belassen hat – zumal die systematischen Zusammenhänge, die er in den Blick nimmt, durchaus ausreichend komplex und schwer zu durchschauen sind.
Diesen Schwierigkeiten bei der Lektüre der PhG steht der Zauber gegenüber, den der Text ausübt. Gerade seine unorthodoxe Gestalt, seine pointierte und polemische Diktion und sein allumfassender Erklärungsanspruch ziehen Leserinnen und Leser immer wieder aufs Neue in ihren Bann. Oft hat man bei der Lektüre den Eindruck, dass hier Bedeutsames geschieht, auch wenn man nicht genau zu sagen weiß, was es denn nun eigentlich ist. Die Suggestionskraft von Hegels Schreiben und Denken mag ein Grund dafür gewesen sein, dass man ihm gegenüber misstrauisch geworden ist und – wie dies zum Beispiel im Umfeld des Neukantianismus auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert der Fall war – die vergleichsweise klarere und nüchternere Diktion Kants vorzieht.
Hegels Text ist aber unbedingt der Auseinandersetzung wert. Dafür ist es erforderlich, ihn so zu interpretieren, dass sein Beitrag zu systematischen Fragestellungen verständlich wird. Dieser Kommentar will eine entsprechende Interpretation entwerfen.
Diese kurze Einführung setzt sich zur Aufgabe, das so weit umrissene Vorhaben in vier knappen Abschnitten vorzubereiten. Im ersten dieser Abschnitte gebe ich einen Überblick über die Entstehung des Textes, bevor ich ihn im zweiten in seinen Eigentümlichkeiten charakterisiere. Der dritte Abschnitt skizziert in einer ersten Annäherung, worum es in Hegels PhG in der Sache geht. Der vierte und letzte Abschnitt erläutert schließlich genauer die Ziele und den Aufbau des Kommentars.
Die Entstehung der PhG
Hegels Weg in die akademische Philosophie war alles andere als gradlinig. Nach seinem Studium am Tübinger Stift von 1788 bis 1793 (das er mit der theologischen Konsistorialprüfung abschloss), arbeitete er zunächst als Hauslehrer (damals nannte man den entsprechenden Beruf »Hofmeister«). Er war dabei zuerst in Bern und dann, auf Vermittlung seines Jahrgangsgenossen und Freundes aus Tübinger Tagen Friedrich Hölderlin (1770–1843), in Frankfurt. Als Hegels Vater im Jahr 1799 starb, erbte Hegel eine größere Summe. Dies ermöglichte es ihm, seine Tätigkeit als Hofmeister an den Nagel zu hängen und sich wieder im engeren Sinn seinen Studien zu widmen. So ging er im Januar des Jahres 1801 nach Jena.
Es ist nicht so, dass Hegel in den Jahren seiner Hauslehrertätigkeit nicht auch wissenschaftlich gearbeitet hätte. Dennoch intensiviert sich seine Arbeit mit der Ankunft in Jena erheblich. Schon nach einem halben Jahr legte er (an seinem 31. Geburtstag, dem 27. August 1801) seine Habilitation ab und begann im Wintersemester 1801/02 damit, als Privatdozent (also – das ist bei dieser Form der Zugehörigkeit zum Lehrkörper einer Universität heute noch genauso, wie es damals war – ohne feste Bezahlung) Vorlesungen zu halten.
Als Hegel nach Jena kam, stand die dortige Universität durchaus noch in ihren Blütejahren, wenn auch kurz vor deren Ende. Gerade im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts hatte sie, unter der Herrschaft Carl Augusts (1757–1828) und seines Ministers Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), eine große Bedeutung, die wesentlich darin bestand, dass Jena zu einem Ort der seinerzeit modernsten Philosophie in deutscher Sprache wurde. Bereits 1789 hatte der Kantianer Karl Reinhold (1757–1823) seine Lehrtätigkeit an der Universität aufgenommen – in demselben Jahr übrigens, in dem Friedrich Schiller (1759–1805) seine Geschichtsprofessur antrat. 1794 wurde dann Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) berufen und 1798 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854), der, obgleich fünf Jahre jünger als Hegel, in denselben Jahren wie Hegel und Hölderlin gemeinsam mit den beiden am Tübinger Stift studiert hatte. Da Fichte und Schelling beide mit dem Anspruch auftraten, Kants moderne Philosophie, die Transzendentalphilosophie, ihren eigenen Maßstäben entsprechend weiterzuentwickeln und von Problemen zu befreien, und beide aufgrund ihrer Schriften als avancierteste philosophische Stimmen anerkannt waren, hatte Jena in dieser Zeit eine philosophiegeschichtlich außerordentliche Stellung. Deren Ende kündigte sich im Jahr 1799 an, als Fichte der gegen seine Philosophie erhobenen Atheismus-Vorwürfe wegen die Professur räumen musste und Jena verließ.
Hegel wurde nach seiner Ankunft in Jena von seinem Freund Schelling unterstützt, mit dem er auch ein gemeinsames Projekt aufnahm: das Critische Journal für Philosophie. Mit diesem Journal profilierte Hegel sich nicht nur als Mitstreiter Schellings, sondern gewann auch ein Publikationsorgan, in dem er erste wichtige Abhandlungen veröffentlichen konnte. Darüber hinaus trat er auch gleich mit einer ersten Monographie an die Öffentlichkeit, die 1801 erschien und sich einem Vergleich der Philosophien Fichtes und Schellings (vor dem Hintergrund der Kantischen Philosophie) widmet. Der genaue Titel des Buches lautet: Die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (es hat sich eingebürgert, diesen Text kurz als »Differenz-Schrift« zu bezeichnen). Hegel wurde mit seinen Überlegungen allgemein als Parteigänger von Schelling wahrgenommen. Das ist insofern verständlich, als Hegel sich in seinem Vokabular und seiner Kritik an Fichte unübersehbar Schelling anschließt, ist aber zugleich auch unberechtigt, da sich schon in diesem ersten Buch Hegels eine eigene Position andeutet – vor allem eine Positivierung der Begriffe des Widerspruchs und der Entfremdung.
Hegel wollte es dabei jedoch nicht belassen. Gleich im Zuge der ersten Vorlesung im Wintersemester 1801/02 kündigte er ein Buch an, das sein eigenes System entwickeln sollte und an dem er seine Vorlesungen orientieren wollte. Dieses Buch aber kam längere Zeit nicht zustande. Hegel arbeitete durchweg an Texten, vielfach auch im Zusammenhang seiner Lehrtätigkeit. Diejenigen dieser Texte,