Stefan Zweig
Amerigo: Historischer Roman
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2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1672-7
Inhaltsverzeichnis
Für zweiunddreißig Seiten Unsterblichkeit
Amerigo
Die Geschichte eines historischen Irrtums
Amerigo
Nach welchem Manne ist Amerika »Amerika« benannt?
Diese Frage beantwortet schon jedes Schulkind stramm und unbedenklich: nach Amerigo Vespucci.
Aber die zweite Frage wird selbst die Erwachsenen schon zögernder und unsicherer finden, die Frage: Warum eigentlich wurde dieser Weltteil gerade auf Amerigo Vespuccis Vornamen getauft? Weil Vespucci Amerika entdeckte? Er hat es niemals entdeckt! Oder vielleicht, weil er als erster statt bloß der vorgelegenen Inseln das eigentliche Festland betreten? Auch deshalb nicht, denn nicht Vespucci hat als erster den Kontinent betreten, sondern Columbus und Sebastian Cabot. Also dann vielleicht, weil er trügerisch behauptet hat, als erster hier gelandet zu sein? Vespucci hat nie diesen Rechtstitel bei irgendeiner Instanz angemeldet. Oder weil er als Gelehrter und Kartograph diesen seinen Namen für dieses Land ehrgeizig vorgeschlagen? Nein, auch dies hat er niemals getan und wahrscheinlich zeit seines Lebens nie von dieser Namensgebung erfahren. Aber warum, wenn er nichts von all dem geleistet, warum fiel gerade ihm die Ehre zu, seinen Namen für alle Zeiten zu verewigen? Warum heißt dann Amerika nicht Columbia, sondern Amerika?
Wie dies kam, ist ein richtiger Rattenkönig von Zufällen, Irrtümern und Mißverständnissen, diese Geschichte eines Mannes, der auf Grund einer Reise, die er nie gemacht hat und die gemacht zu haben er selbst nie behauptet hat, den ungeheuren Ruhm erbeutete, seinen Vornamen zum Namen des vierten Weltteils unserer Erde zu erheben. Seit vier Jahrhunderten verwundert und verärgert diese Namensgebung die Welt. Immer wieder wird Amerigo Vespucci beschuldigt, durch unlautere und dunkle Machinationen diese Ehre sich heimtückisch erschlichen zu haben; und vor immer neuen gelehrten Instanzen ist dieser Prozeß wegen »Betrugs auf Grund Vorspiegelung falscher Tatsachen« abgehandelt worden. Die einen haben Vespucci freigesprochen, die andern ihn zu ewiger Schande verurteilt, und je apodiktischer seine Verteidiger ihn für unschuldig erklärten, um so leidenschaftlicher haben seine Gegner ihn der Lüge, der Fälschung und des Diebstahls bezichtigt. Heute füllen diese Polemiken mit allen ihren Hypothesen und Beweisen und Gegenbeweisen schon eine ganze Bibliothek; den einen gilt der Taufpate Amerikas als »amplificator mundi«, als einer der großen Erweiterer unserer Welt, als Entdecker, als Seefahrer, als Gelehrter hohen Ranges, den andern als der frechste Betrüger und Gaukler in der Geschichte der Erdkunde.
Auf welcher Seite liegt die Wahrheit – oder sagen wir vorsichtiger: die äußerste Wahrscheinlichkeit?
Nun ist der Fall Vespucci heute längst kein fachgeographisches und kein philologisches Problem mehr. Es ist ein Denkspiel, an dem jeder Neugierige sich versuchen kann, und überdies ein leicht übersehbares Spiel, weil ein Spiel mit wenigen Steinen, denn das ganze uns bekannte literarische Opus Vespuccis umfaßt mit allen Dokumenten in summa vierzig bis fünfzig Seiten. So schien es auch mir verstattet, hier die Figuren noch einmal aufzustellen und die berühmte Meisterpartie der Geschichte mit allen ihren überraschenden und ihren Fehlzügen Zug um Zug noch einmal durchzuspielen.
Die einzige Forderung geographischer Art, die meine Darstellung an den Leser stellt, ist: alles, was er an Geographie dank unserer kompletten Atlanten weiß, zu vergessen und von seiner inneren Landkarte Form, Gestalt, ja Vorhandensein Amerikas zunächst einmal gänzlich auszulöschen. Nur wer vermag, sich das Dunkel, die Ungewißheit jenes Jahrhunderts in die Seele zu senken, kann die Überraschung, den Enthusiasmus jener Generation nachfühlen, als die ersten Konturen einer ungeahnten Erde aus dem bisher Uferlosen sich abzuzeichnen begannen. Wo aber die Menschheit etwas Neues erkennt, will sie es benennen. Wo sie Begeisterung fühlt, will sie ihre Lust in einem Jubelruf sich von den Lippen schwingen. So war es ein Glückstag, als der Wind des Zufalls ihr plötzlich einen Namen entgegenwarf; und ohne nach Recht oder Unrecht zu fragen, nahm sie ungeduldig das klingende, schwingende Wort und grüßte ihre neue Welt mit dem neuen, mit ihrem ewigen Namen Amerika.
Die historische Situation
Anno 1000. Ein schwerer, dumpfer Schlaf liegt über der abendländischen Welt. Die Augen sind zu müde, um wachend um sich zu schauen, die Sinne zu erschöpft, neugierig sich zu regen. Der Geist der Menschheit ist gelähmt wie nach einer tödlichen Krankheit, sie will nichts mehr wissen von ihrer Welt. Und noch sonderbarer: Selbst was sie vordem wußte, hat sie auf unbegreifliche Weise vergessen. Man hat verlernt zu lesen, zu schreiben, zu rechnen, sogar die Könige und Kaiser des Abendlandes sind nicht mehr imstande, ihren eigenen Namen unter ein Pergament zu setzen. Die Wissenschaften sind zu theologischen Mumien erstarrt, die irdische Hand ist nicht mehr fähig, in Zeichnung und Plastik den eigenen Körper nachzubilden. Über allen Horizonten liegt gleichsam ein undurchdringlicher Nebel. Man reist nicht mehr, man weiß nichts von fremden Ländern; man verschanzt sich in Burgen und Städten gegen die wilden Völker, die immer und immer wieder von Osten hereinbrechen. Man lebt in der Enge, man lebt im Dunkel, man lebt ohne Mut – ein schwerer, dumpfer Schlaf liegt über der abendländischen Welt.
Manchmal dämmert in diesen schweren, dumpfen Schlummer ein ungewisses Erinnern, daß die Welt einmal anders gewesen, weiter, farbiger, lichter, beschwingter, erfüllt von Geschehnis und Abenteuer. Sind nicht einmal Straßen durch all die Länder gegangen und auf ihnen die römischen Legionen geschritten und hinter ihnen die Liktoren, die Hüter der Ordnung, die Männer des Rechts? Ist nicht einmal ein Mann Caesar gewesen, der zugleich Ägypten und Britannien erobert, sind nicht die Triremen gefahren in die Länder jenseits des Mittelmeers, in das sich längst kein Schiff mehr wagt aus Angst vor den Piraten? War nicht einstmals ein König Alexander bis nach Indien gedrungen, dies sagenhafte Land, und über Persien heimgekehrt? Hat es nicht vormals Weise